Fortsetzung...

EVOLVER: Aber in Ihren Geschichten gibt es ja ausschließlich solche prägenden Charaktere!
Gibson: Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie im Universum meiner Bücher überhaupt ein angepaßter Charakter aussehen oder sein würde. Aber wenn ich einen hätte, wäre es eine Herausforderung für mich, ihn durch die ganze Handlung zu schleusen. Je mehr Handicaps meine Figuren haben, desto leichter ist es für mich, daran eine Geschichte aufzuhängen. Das sind auch die Figuren, mit denen ich mich am einfachsten identifiziere. Wenn ich mich nicht mit ihnen identifizieren kann, komme ich in Schwierigkeiten.

EVOLVER: Wieso?
Gibson: Ich könnte dann gar kein Buch schreiben. Das kommt daher, weil ich - auf eine gewisse Weise - eine traumatische Kindheit hatte. Und dann die Erfahrung, mit 19 Jahren hierher zu kommen, um vor der Einberufung nach Vietnam zu flüchten, auf diese Kultur hier zu treffen, und nie mehr zurückzugehen. Wäre ich nach Schweden oder Bangkok gegangen, hätte mich der Kulturschock klarerweise noch heftiger getroffen. Trotzdem ist es für einen Amerikaner keine selbstverständliche Erfahrung, nach Kanada zu flüchten. Was mir passiert ist, ist eine doppelte Andersartigkeit: Nicht nur, daß ich als Amerikaner nicht in Amerika lebe, sondern ich lebe auch noch als Amerikaner in Kanada. Das reicht mir, um mich mit jeder Andersartigkeit zu identifizieren. Überhaupt ist das bei mir so: Bei jedem Buch, das ich lese, oder jedem Film, den ich sehe, identifiziere ich mich sofort mit den schrägen Typen. Lustigerweise scheint das den meisten Leuten so zu gehen. Das ist wohl der klassische Weg, die Sympathie des Lesers zu gewinnen.

EVOLVER: Ja, sicher. Das Interessante an Ihren Büchern ist jedoch, daß Sie kaum Antworten geben. Sie öffnen zwar neue Horizonte, erklären sie aber nicht weiter...
Gibson: Ja.

EVOLVER: Es ist so, als würden Sie dem Leser einen ersten Anstoß geben, ihm eine Richtung andeuten - und nun muß er selbst sehen, wohin ihn der Weg führen wird...
Gibson: Nun, das kommt von meiner eigenen Erfahrung als Leser und der Freude am Konsumieren dieser Art Literatur. Das größte Vergnügen beim Lesen bereitet es mir, zu interagieren, mitzuphantasieren. Ich mag Geschichten, die mich einladen, selbst am kreativen Prozeß teilzunehmen.

EVOLVER: Können Sie uns das etwas genauer erklären?
Gibson: Lassen Sie mich Ihnen ein Gegenbeispiel geben: Das ganze "Star Wars"-Universum, mit all dem Franchising und den vielen Produkten, ist etwas, das sich der Konsument in unterschiedlichen Modulen zusammenkaufen kann. Doch es bleibt kein Raum für etwas eigenes übrig. Das ist einer der Gründe, warum ich es nicht mag. Das ist mir zu starr. Für den Betrachter bleibt kein Raum, um darin zu interagieren.

EVOLVER: Woran orientieren Sie sich dann beim Schreiben?
Gibson: Mein eigenes Vergnügen als Leser ist die Richtline für mein Schreiben. Mein Instinkt sagt mir, wo ich nicht zu fein erzählen oder ausschmücken darf und was ich - bis zu einem gewissen Grad - dem Leser überlassen muß. Ich bin sicher, einige Leser sind darüber frustriert und denken bestimmt, ich sei faul, weil sie meinen, ich hätte es nicht bis zum Ende durchgedacht.

EVOLVER: Ihre Geschichten sind also eher wie Malbücher, in denen Sie nur die Umrisse vorgeben, die wir dann auspinseln sollen?
Gibson: Dazu erzähle ich ihnen ein Erlebnis, das ich vor einigen Jahren mit ein paar Jungs von der damals noch jungen Computer- und Rollenspieleindustrie hatte. Sie wollten in genauen Details von mir wissen, wie die Welt meiner Geschichten funktioniert. Die glaubten, ich hätte irgendwo ein riesiges Modell der Welt meiner Bücher gebaut. Ich mußte ihnen leider sagen: Das gibt es nicht! So funktioniert es nicht! Sie sahen mich total überrascht an; die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Schließlich fragten sie mich: Meinen Sie damit, daß Ihre Welt nicht spielbar ist? Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, waren meine Geschichten nicht spielbar, weil ich nicht schon ein Modell wie z. B. "SimCity" mit festen Regeln usw. erarbeitet hatte. Für einige SF-Leser, das weiß ich, sind diese komplexen, erdachten Welten in den Geschichten das größte Vergnügen. Und ich möchte das hier überhaupt nicht abwerten, aber ich biete es halt nicht an. Wenn Sie das möchten, müssen Sie zu jemand anderem gehen. Meine Unsicherheit beim Schreiben besteht darin, immer wieder eine Balance zwischen Andeutung und Ausschmückung zu finden. Immer wieder frage ich mich dann natürlich: Hab´ ich es jetzt knapp und klar auf den Punkt gebracht oder nur meinem inneren Schweinehund nachgegeben und war faul? Doch ich sage Ihnen: Dieser Balanceakt kostet ganz schön viel Arbeit!



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