Fortsetzung...

EVOLVER: Warum haben Sie Ihre "Autonome Zone" nicht auf dem Festland, sondern in Form einer Brücke über dem Wasser angesiedelt?
Gibson: Ah, das ist so einer dieser großartigen...

EVOLVER: ... Späße?
Gibson: ... ausgezeichneten...

EVOLVER: ... Ideen?
Gibson: ... Glücksfälle! Also, ich kam darauf, als ich in einem Hotel in San Francisco wohnte. Direkt aus meinem Fenster schaute ich auf die Brücke. Und eines Morgens war alles voller Nebel. Nur die Spitze eines Brückenpfeilers kroch oben etwas aus dem Nebel heraus. Mensch, dachte ich, da könnte man doch wohnen, ein kleines Haus darauf bauen, und hätte einen herrlichen Blick über die ganze Bucht. Ein paar Wochen später rief jemand vom San Francisco Museum of Modern Art an und fragte mich, ob ich eine Kurzgeschichte schreiben könnte, die in San Francisco spielt. Sie sollte Teil einer Ausstellung sein und auch die Zukunft der Stadt beschreiben. Das erste, was mir in den Sinn kam, war dieser Brückenpfeiler - und von dort aus entfaltete sich für mich das gesamte Leben und Treiben auf der Brücke. Wie sie dann letztendlich geworden ist, welche Menschen da leben, in welchen Beziehungen sie zueinander stehen, was die Brücke alles symbolisieren kann, das hat sich erst in den drei folgenden Büchern entwickelt. Bis zum Ende dieses Buches schließlich, in dem ich die Brücke halb niederbrenne, um endlich damit aufzuhören und diese starke Metapher wieder loszuwerden.

EVOLVER: Ist das nun das Ende der Brücke?
Gibson: Die Magie der Brücke wird tatsächlich schon dort aufgelöst, wo Chevette erfährt, daß es mittlerweise für große Unternehmen schick geworden ist, sich auf der Brücke einzumieten, um dort Geschäfte zu machen.

Eine von 8800 Englischlehrinnen, die gerade wegen eines Kongresses die Stadt bevölkern, kommt an unserem Tisch vorbei und sieht das Buch.

Sie: Oh, ist das der neue William Gibson? Ist es gut? Ist es so gut wie das letzte Buch?
Im ersten Moment sind wir alle etwas verblüfft. Schließlich sagt
Gibson: Wir hoffen es!
Sie: Oh, ich bin ein großer Fan von seinen Büchern.
Sie geht weiter, an einen der Nebentische.
EVOLVER: Das war eine Englischlehrerin, von wo auch immer...
Gibson: (lachend) Das war doch wirklich lustig!
(sie nachahmend) "Ist es so gut wie das letzte Buch?"
(herumalbernd) Nein! Es ist totaler Mist! Der kann nicht mehr schreiben!

EVOLVER: Kommen wir noch mal auf die Brücke zurück, die "Autonome Zone", wo eine eigene Evolution stattfindet, wie Sie sagen. Sie markieren das Ende dieser Evolution und der dortigen Subkultur mit dem Auftauchen der Großunternehmen. Meinen Sie damit: Immer wenn eine Subkultur eine starke Anziehungskraft ausstrahlt, möchten große Firmen daran partizipieren und führen somit auch das Ende dieser Kultur herbei?
Gibson: Das ist etwas, was wir in den letzten Jahren öfters beobachten konnten. Ich bin wirklich fasziniert von dieser neuen Sorte Marketing-Research. Da versuchen große Unternehmen, die hippsten Konsumenten aufzuspüren, und schicken diese als Trendscouts in Nischenmärkte, damit sie dort neue Tendenzen entdecken. Wenn Sie überlegen, wie eine Laufschuhfirma wie Adidas versucht, ein neues Produkt zu finden - die gehen wirklich auf die Straße und versuchen rauszukriegen, was die Kids als nächstes kaufen würden. Unglücklicherweise entsteht dadurch eine Art Rückkopplung, die im Ergebnis die Quelle der Idee austrocknet.

EVOLVER: Wie meinen Sie das?
Gibson: Es ist wie ein ökologisches Problem, diese Art des Marketings. Denn es geht viel zu nah an die Stelle, an der noch spontane neue Ideen entstehen, und erntet diese zu früh und zu häufig ab. Zurück bleibt eine unfruchtbare, verkarstete Landschaft. Wie soll dort noch etwas Neues wachsen? Es geht ja soweit, daß geographische Grenzen überhaupt keine Rolle mehr spielen. Marketing-Researcher können heute den ganzen Planeten überblicken.

EVOLVER: Und dadurch blitzschnell und weltweit reagieren?
Gibson: Es gibt keine Verstecke mehr für die Boheme, wie wir sie noch im letzten Jahrhundert kannten. Wo würde eine neue Form der Musik heute herkommen? Das ist doch überhaupt die große Frage: Woher kommt etwas Neues? Es wird nicht von einem Platz kommen, auf den niemand achtet. Weil es den heute gar nicht mehr gibt. Es ist halt eine Welt.

EVOLVER: Andererseits wird doch für die Menschen vieles dezentralisierter, sodaß sie mehr Wert legen auf kleinere und private Kontexte. Sie suchen und finden ihresgleichen heute über das Internet, egal, wo in der Welt sie sind.
Gibson: Ja, so ist es. Die neue Nachbarschaft ist virtuell und die neuen Tribes und die Boheme sind in einem gewissen Maß virtuelle Konstrukte und unsichtbar.

EVOLVER: Viel schwerer aufzuspüren?
Gibson: Ja, viel, viel schwerer aufzuspüren. Genau. Seit vielen Jahren habe ich mich öffentlich besorgt über das Verschwinden der Boheme geäußert. Aber vielleicht hat die neue Boheme nur eine viel bessere Form der Verschlüsselung, ist kryptischer? Wir können nicht einfach irgendwo reingehen und nachsehen, welcher Schuhstil gerade angesagt ist. Die Boheme ist nicht entzifferbar. Ein versiegeltes Universum. Aber wenn es im Cyberspace passiert, ist es sowieso egal, da brauchen sie ja keine Schuhe zu tragen.



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