Fortsetzung...

EVOLVER: Ihr Schreiben hat sich seit "Neuromancer" stark verändert. Wir haben das Gefühl, Ihre Bücher, besonders die letzten beiden, werden immer skelettartiger, konzentrierter auf das Wesentliche. Sie liefern die wichtigsten Anhaltspunkte, verzichten aber vollständig auf die Auschmückung, schweifen nicht ab, werden, wie man so schön sagt, nicht prosaisch. Hat das damit zu tun, daß Sie es nun, nach 20 Jahren im Genre der Science Fiction - Sie sind ja sowas wie der "Großvater des Cyberspace" - leid geworden sind, immer neue Welten, Helden und Visionen zu erfinden?
Gibson: Nein. Erfunden habe ich das ja sowieso nicht. Ich bin viel mehr dabei gewesen, wie eine neue Technologie entstand, die mich zu meinen Geschichten inspirierte. Das ermöglichte es mir, in den späten 70ern über den Cyberspace zu schreiben, bevor es das Internet richtig gab. Das wiederum gab mir die Reputation, ein SF-Autor zu sein - ein Unfall, sozusagen, ein Versehen der Geschichte. Wäre ich in der Nacht dabei gewesen, als die Dampfmaschine erfunden wurde und hätte es aufgeschrieben, wäre mir dann die Ehre zuteil geworden, der Erfinder der Dampfmaschine zu sein? Einer der Punkte an diesen letzen drei Büchern ist, daß wir nun in der Welt von "Neuromancer" leben. Natürlich ist die Welt nicht so wie in dem Buch. Sie ist so, wie wir sie hier sehen. Aber das Heute hat die Technologie, das gesamte Lebengefühl des Buches längst erreicht. Innerhalb von nur 20 Jahren!

EVOLVER: Dann würden Sie sich selbst eher als Gegenwartsautor bezeichnen, der mit den Werkzeugen des Science-Fiction-Genres arbeitet?
Gibson: Richtig! Mit den letzten drei Büchern habe ich eine neue Zeitrechnung begonnen. Und die ist höchstens fünf Jahre entfernt. Alles, was in den Geschichten passiert, können wir, wenn wir uns ein bißchen anstrengen, von hier aus schon wahrnehmen. Nur der unbefangene Leser glaubt immer noch, daß es Science Fiction ist. Denn ich arbeite ja auch mit den Werkzeugen der SF, weil sie bestens dafür geeignet sind, unsere Gegenwart zu beschreiben und zu verstehen, wie sie wirklich ist: pure Science Fiction!


Facts & Figures: William Gibson

William Gibson wurde am 17. März 1948 in Conway, South Carolina, geboren. Mit 19 Jahren floh er vor der Einberufung ins Militär, das ihn sofort in den Vietnamkrieg geschickt hätte, nach Kanada. Ganz ähnlich wie Bruce Sterling zog auch Gibson einige Zeit durch Europa, bis er sich 1972 in Vancouver niederließ. Dort studierte er an der Universität englische Sprache und Literatur und war als Assistent in einem Kurs für Filmgeschichte tätig.
Gibson war fast 30 Jahre alt, als er in den Jahren 1976/1977 zu schreiben begann - also in der Zeit, als auch der Punk aufkam. Seine erste Kurzgeschichte "Fragments of a Hologram Rose" verkaufte er 1977 für sage und schreibe 23 US-Dollar an die Zeitschrift "UnEarth". 1981 erfand er in seiner Erzählung "Burning Chrome" den Begriff des "Cyberspace" - ein unendlicher digitaler Raum, in den sich die Menschen über die Direktverbindung zu einen Computer einloggen, sozusagen der Datenraum hinter dem Bildschirm, global vernetzt; ganz ähnlich dem, was wir heute als Internet bezeichnen.
Doch erst 1984, mit dem Roman "Neuromancer", gelang Gibson der internationale Durchbruch. Gleichzeitig wurde er damit zum Begründer eines neuen Lebensgefühls, das - aus der Musik kommend - durch ihn zu einem eigenständigen literarischen Genre wurde: Cyberpunk. 1986 legte Gibson das Buch "Count Zero"/"Biochips" nach und vervollständigte 1988 mit "Mona Lisa Overdrive" die "Neuromancer"-Triologie, die bis heute weltweit nachgedruckt und sehr erfolgreich verkauft wird.
Erst fünf Jahre später, also 1993, erschien wieder ein Roman von ihm: "Virtual Light"/"Virtuelles Licht" mit der Idee der "Autonomen Zone", die Gibson auf der Oakland Bay Bridge in San Francisco ansiedelte. Wurde im "Virtuellen Licht" digitalen Daten mit Hilfe einer Brille Körperlichkeit verliehen, so ist Rei Toei, die "Idoru" aus dem gleichnamigen Roman (1996), die digitale Schöpfung per se. Geboren im Netz, ist sie die "Wunschmaschine ... ein Aggregat subjektiven Begehrens. Sie ist kein Fleisch; sie ist Information. Sie ist die Spitze eines Eisbergs, nein, einer Antarktis von Informationen..."
Spätestens mit "Idoru" war Gibson in der Gegenwart angekommen. Denn gleichzeitg mit dem Erscheinen des Buches in den USA stellte die japanische Model-Agentur HoriPro der Welt den ersten digitalen, nur im Computer erschaffenen Menschen vor: Kyoko Date. In dem 2000 erschienenen Buch "All Tomorrow´s Parties"/"Futurematic" schreibt Gibson das Schicksal der "Idoru" und seines begnadeten Netzläufers Laney fort und führt seine Figuren dort zusammen, wo die ganze Geschichte begann: auf der Oakland Bay Bridge.
William Gibsons Bücher erscheinen in Deutschland im Verlag Rogner & Bernhard (erhältlich beim Versand Zweitausendeins) und im Heyne-Verlag).



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