Fortsetzung...
EVOLVER: Können Sie uns die Bedeutung, die das Jahr 1911 für Sie hat, erklären? Sie spielen damit im Buch herum, ohne es näher zu benennen.
Gibson: Oh, hm, der Leser soll das nicht wissen, und ich tue auch nur so, als ob da etwas wäre. Laney weiß aus einem fast magischen Grund, das das letzte Mal, als es so einen totalen Wandel gab, er im Jahr 1911 stattfand. Er erklärt nie genauer, was da passiert ist; er liefert so ein paar kleinere Referenzen ab, wie die, daß Frau Curies Mann von einem Karren angefahren wurde. Eine meiner Ideen zu Laneys Knotenpunkten ist, daß sie nicht mit traditionellen Kausalitäten der herkömmlichen Geschichtsschreibung zu erklären sind. Es ist etwas anderes, es geht um entstehende Systeme. Eigentlich bin ich auf das Jahr 1911 gekommen, als ich einen Essay von Virgina Woolf las, in dem sie - nicht ganz im Ernst - behauptet, daß die Moderne an einem bestimmten Wochenende im Jahr 1911 begann. Das war´s.
EVOLVER: Alles hat sich an diesem Wochenende schlagartig verändert?
Gibson: Ja. Danach war alles anders. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie es nicht so ganz ernst meinte. Aber 1911 ist eine gute Wahl; um diese Zeit herum sind viele Sachen passiert. Da gab es noch keine Paßkontrollen, keine Waffenkontrolle, es gab keine Drogengesetze. Viele der Dinge, die wir heute für ganz selbstverständlich nehmen, als Eckpfeiler der westlichen Kultur verinnerlicht haben, gab es damals gar nicht. In den ersten 15 Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich unheimlich viele Lebensumstände total schnell verändert.
EVOLVER: Beispielsweise durften die Frauen noch nicht wählen...
Gibson: Ja, Frauenwahlrecht, Radio, da gab´s große Veränderungen. Die Menschen waren regelrecht aus dem Häuschen, die Futuristen in Italien sind komplett durchgeknallt. Mit gutem Grund.
EVOLVER: Die Message ihres Buches ist also die Prophezeihung: Der Wandel wird kommen? Oder lautet Sie vielmehr: Der Wandel ist schon längst da? Nur dadurch, daß nun der Prototyp, das einmalige, digitale Wesen der Idoru, diese unphysikalische Identität, beliebig oft kopierbar wird, tritt er in das Stadium des Massenmarktes ein?
Gibson: Ja, aber sie ist natürlich physikalisch vorhanden ...
EVOLVER: ... vorher nur Projektion...
Gibson: ... ja, freilich...
EVOLVER: ... und nun das erste Mal nackt...
Gibson: ... ja, eben körperlich vorhanden. Aber das Entscheidende, das Wichtige, was in dieser Szene versteckt ist: Als der Junge Bomzilla sie aus dieser Nanotech-Maschine heraussteigen sieht, da geht die Idoru zur Tür des Lucky Dragon und öffnet sie!
EVOLVER: So ein Lucky-Dragon-Laden entspricht wohl dem typisch amerikanischen 7-Eleven-Shop, wie es ihn an jeder Ecke gibt?
Gibson: Ja, ja. In dem Augenblick, wo also die Idoru die Tür öffnet, ändert sich alles, geschieht der Wandel. Denn in all diesen Nanotech-Maschinen, die es auf der Welt gibt, ist sie zu einem physikalischen Wesen zusammengefügt worden. An diesem Punkt hat die digitale Welt unsere Fiktionen eingeholt und in die physikalische, richtige Welt verwandelt. Es ist, als würde der Cyberspace körperlich. Cyberspace und die richtige Welt unterscheiden sich nicht mehr. Und an diesem Punkt, an dem sie da aus der Maschine steigt, verändert sich das ganze Universum des Buches, entsteht eine völlig neue Welt. Für die Charaktere im Buch stellt es keine sofort spürbare Veränderung ihrer Welt dar, aber es ist einfach alles anders. Der Moment, in dem die Idoru entsteht, das ist der Knotenpunkt und das Ende der Welt, wie wir sie bisher kannten. Danach entfernt es sich weiter und weiter von dem, was wir Realität nennen und wird etwas anderes, etwas Neues. Das ist ein schwieriges Ende für einige Leser, das kann ich mir schon vorstellen; denn die Erwartungen an das Ende einer solchen Geschichte sind ja riesig - so mit einem großen Knall am Ende, wie bei einer Broadway-Produktion, und das fehlt. Doch ich wollte meinem Verständnis darüber, wie so etwas geschieht, treu bleiben.
EVOLVER: So wie es uns auch passiert durch die gesamte Vernetzung, das Web, in dem ich eine Bestellung digital aufgebe, und bald darauf klingelt es an der Tür und ich bekomme eine echte, heiß dampfende Pizza in die Hand gedrückt?
Gibson: Ja, das ist schon wieder Alltag.
EVOLVER: Wollen Sie das Thema nach der nun eher zufällig entstandenen Trilogie "Virtal Light", "Idoru" und "All Tomorrow´s Parties" weiterführen?
Gibson: Nein, ich kann nicht über die Singularität hinausgehen. Was am Ende von "All Tomorrow´s Parties" geschieht, ist eine technologische Singularität, eine Art historisches schwarzes Loch. Die Geschichte der drei Bücher läuft mit solcher Kraft auf dieses Ende hinaus, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie sie überhaupt noch weitergehen sollte. Ich habe keine Ahnung, wohin die Synergie zwischen dem Digitalen und der Nanotechnologie uns führen wird. Aber ich kann sagen, daß wir es erleben und dabei wahrscheinlich weiterhin als menschliche Wesen erkennbar bleiben werden.