Fortsetzung...

EVOLVER: Also stehen Sie eher in der Tradition von Tolkiens Geschichtenerzähler Gandalf im "Herrn der Ringe"? Ein Mensch, der etwas voraussehen kann, der die alten Mythen und Weisen kennt und die Punkte erahnt, an denen das Schicksal und die Geschicke sich wenden werden? Spielen Sie in dieser Kategorie?
Gibson: Vielleicht. Für mich fühlt sich das, was ich eigentlich tue, wie eine Suche nach den Stellen im richtigen Leben an, wo Wandel erkennbar wird - und es ist meine Aufgabe, in einer interessanten Art darauf hinzuweisen. Wenn die Menschen das dann sehen und den Wandel wahrnehmen, dann kriegen sie Angst oder freuen sich. Das ist jedoch ihre Sache. Mein Job ist es lediglich, auf die Stellen zu verweisen, an denen der Wandel stattfindet: "Schau, das passiert ja längst!" Ich habe es in meinen letzten Büchern so gehandhabt, daß das, worüber ich eigentlich schreibe, die Gegenwart ist. Ich schreibe darüber, was wir im Moment erleben, und nicht darüber, was wir mal erleben könnten. Die Gegenwart ist so instabil und unberechenbar geworden in den letzten 50 Jahren; unsere Lebensbedingungen sind einem noch nie dagewesenen, radikalen, schnellen Wandel unterworfen - darüber schreibe ich.

EVOLVER: Dann würden Sie sich also viel eher als zeitgenössischen Schriftsteller denn als SF-Autor bezeichnen?
Gibson: Ja, obwohl ich nicht ganz ehrlich bin dabei, denn ich werde ja noch als SF-Autor vermarktet...

EVOLVER: Und das klappt ja auch ganz gut.
Gibson: ... ja, weil es ein großer Markt mit klaren Marketing-Spielregeln ist. Ansonsten kämen die Leute auch ganz durcheinander. Momentan spiele ich mit der Idee, meinem nächsten Buch einen Untertitel zu geben, um zu verdeutlichen, daß es nicht von der Zukunft handelt: "Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert".

EVOLVER: Im Original heißt Ihr aktuelles Buch "All Tomorrow´s Parties", nach einem Lied der Gruppe Velvet Undergorund. Warum haben Sie es in Deutschland "Futurematic" genannt?
Gibson: Das war die Idee des Verlegers, nicht meine. Der richtige Titel "All Tomorrow´s Parties" ist nicht zu übersetzen. Und schon während meiner Lesereise zu dem Buch, in den USA, wurde ich ständig nach der Bedeutung des Titels gefragt. Das konnte ich nie beantworten, weil ich auch nicht genau weiß, was der Titel mit meinem Buch zu tun hat. Ich mochte den Titel, er war einfach da.

EVOLVER: Aber Sie kennen doch das Lied von Velvet Underground?
Gibson: Ja, natürlich. Ich hielt es für den idealen Titel für das Buch, und ich bin auch zufrieden damit. Aber er hat nicht funktioniert. Nur die Leute, die auch den Song kennen, haben kapiert, woum es geht. Andere dachten, er wäre eine politische oder gesellschaftskritische Andeutung. Den Titel "Futurematic" finde ich sehr passend. Den hätte ich auch für die Originalausgabe verwendet, wenn ich nur darauf gekommen wäre.

EVOLVER: Ich glaube, wir haben die Schlüsselstelle im Buch gefunden, die auch den Titel erklären dürfte. Mr. Harwood sagt da zu Laney: "Ich will, daß meine Welt verwandelt wird, aber ich möchte auch, daß mein Platz in dieser Welt dem entspricht, den ich gegenwärtig einnehme. Ich will meinen Kuchen esssen und ihn zugleich behalten. Ich will einen kostenlosen Lunch."
Gibson: Ja, gut gelesen ... den Kuchen essen und ihn trotzdem behalten, genau.

EVOLVER: Das ist die identische Situation, wie sie im Lied beschrieben wird: Ich gehe auf eine Party, schon in der Gewißheit, daß der Kick, den ich mir wünsche, fehlen wird - und es eigentlich nur um die Party des nächsten Tages geht, von der ich genauso enttäuscht zurückkehren werde.
Gibson: Ja, genau. Ah, hier auf dem deutschen Cover des Buchs stimmt auch die Brücke: die Oakland Bay Bridge. In San Francisco mußte ich den Leuten nicht nur den Titel erklären, sondern auch, daß aus Versehen die Golden Gate Bridge und nicht die Oakland Bay Bridge abgebildet wurde.

EVOLVER: Spielt das denn eine Rolle?
Gibson: In San Francisco schon. Da hab´ ich mich zusammen mit dem Buch auch nicht photographieren lassen. Denn es geht darum, wohin die Brücken führen! Die Oakland Bay führt direkt in ein politisch radikales Gebiet und einen großen schwarzen Slum. Die Golden Gate mündet auf der anderen Seite in einer reichen Gegend. Für die Geschichte würde der Unterschied bedeuten, daß die Brücke nicht von "Autonomen" sondern von schwerreichen Yuppies bewohnt wäre.

EVOLVER: Schön, daß wir bei den Brücken gelandet sind. Was bedeuten Brücken für Sie? Können Sie uns das ein bißchen genauer erklären, auch was Sie mit dem Begriff "Autonome Zone" meinen? In Deutschland gab es jahrelang, mitten in der Großstadt Hamburg, eine Gegend mit besetzten Häusern, die Hafenstraße. Die Bewohner, die Stadt, die Polizei duldeten das irgendwie. Ist so etwas für Sie eine "Autonome Zone"?
Gibson: Bei uns gibt es solche "Autonome Zonen" - im Gegensatz zu Europa - nicht. Das finde ich bemerkenswert, wir haben keine Hausbesetzerszene in Nordamerika. Ich finde es sehr interessant, daß europäische industrielle Gesellschaften einen so hohen Grad an Toleranz demonstrieren. Das ist sehr smart und Ausdruck der Flexibilität einer Gesellschaft, damit sie nicht aus den Fugen gerät. Man weiß nie, was dort geschieht und welchen Gesetzen die Evolution dort unterliegt. Aber es kann gut sein, daß letzendlich die gesamte Gesellschaft davon profitieren wird.



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