Warum
warst du nicht vorhin, auf der Raststätte?!" fuhr sie wütend die
Platinblonde an, die neben dem Straßenbankett hockte und ins Gras
pinkelte. Sue warf einen Blick in den Wagen. Hannah erwiderte ihn, und plötzlich
war da wieder dieses Gefühl in Sues Magen, das keine Ruhe geben wollte:
"Bring´ sie um, dieses verfluchte Miststück!" flüsterte
die innere Stimme unentwegt, und das Geräusch, das Angelas Pisse auf
dem nassen Gras verursachte, schwoll in Sues Schädel zu einem prasselnden
Inferno an. Hannahs Rülpsen riß Sue aus ihrem Alptraum, der sich
verflüchtigte wie der Mond über ihnen. Eine vorbeiziehende Wolke
hatte sich vor sein hilfreiches Licht geschoben. Sues Augen versuchten
in der Dunkelheit das hockende Mädchen zu fokussieren. Als es ihr gelang,
war Angela bereits fertig. Sie zog den Lederdress nach oben. Dann stiegen
sie wieder ein, und Sue betätigte die Zündung - aber der Wagen
stieß lediglich ein hilfloses Keuchen aus.
Er hatte den Geist aufgegeben.
Mitten in der Einöde. Mitten in der Nacht. Alle stiegen aus. Sue
wirbelte herum und
schlug auf Angelas Hinterkopf ein; immer wieder, bis sie aus den Augenwinkeln
zu erkennen glaubte, daß Hannah ein gar nicht mal so verhaltenes
Lächeln im Gesicht stand. Aber als sie sich kurz zur Dürren
drehte, war die bereits wieder zum obligatorischen dämlichen Gesichtsausdruck
übergegangen und starrte mehr oder weniger ins Leere.
Noch bevor Sues Nerven - ähnlich
der Zündung - endgültig versagen konnten, fragte sie in die
Runde: "Okay, wir sind nur ein paar Kilometer gefahren. Wer geht zurück
zur Raststätte?" Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, war
Angela bereits in der Dunkelheit verschwunden.
Sollte
sie doch gehen und nie wieder kommen; sollte das Schwarz ringsum die Dumme
doch auffressen und irgendwo am Straßenrand auskotzen! "Sag doch
was, Hannah!" bat Sue im Stillen und malte sich trotz der wenig inspirierenden
Dunkelheit in buntesten Farben ihre Reaktion auf eine Äußerung
der Dürren aus.
"Warum machst nicht ´nen
Call beim Pannendienst? Hat doch gestern auch geklappt, auf der Autobahn."
Langsam ging Sue auf Hannah
zu, bis sie den schlechten Atem der Dürren im Gesicht spürte.
"Wir haben hier keinen Empfang."
*
"Haben Sie eine Panne?"
"Nein, wir machen ein Mondschein-Picknick."
Sue musterte den Mann, in dessen dunklen, starren Augen sich der
Erdtrabant schwach spiegelte. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht, was
hier draußen allerdings keine große Kunst war. Jeder verfluchte
Quadratmeter dieser Einöde war ein Teil des großen Nichts -
sogar der Wagen und das Tanzensemble, das er auf so rigorose Art im Niemandsland
ausgespuckt hatte -, und somit auch jeder Fremde, der sich nachts hier
herumtrieb. Aber wer war denn nun eigentlich fremd hier? Sie oder der
Mann, der gar nicht so fremd sein mochte, wie es angesichts der befremdlichen
Umgebung schien?
Eine reine Alibihandlung
jedenfalls, daß sich der sogenannte Fremde den Motor ansah. Ausrichten
konnte er nichts. Sei´s, daß es zu dunkel war, oder auch, daß
Sues erster Eindruck zutraf: Er sah einfach nicht so aus, als besäße
er besonderes technisches Talent; und das Auf- und Zuklappen des Motordeckels
(auch der kurze prüfende Blick dazwischen) hatten sich ein bißchen
zu flüchtig gestaltet.
"Ich wohne nicht weit von hier ...
und ich hab´ Telefon ... also ..." Mit einem kurzen Blick auf Sues
Hüften geriet die kurze Einleitung des Mannes ins Stocken; aber es
war ohnehin klar, was er am liebsten angehängt hätte: "Sie könnten
ja den Pannendienst von meinem Telefon aus anrufen. Und die Wartezeit
... ja, die verkürzen wir uns mit ein paar netten Spielen ... vielleicht
ein Tittenfick oder auch ein ganz konventioneller..."
Sue nickte. Irgendwo da draußen
versuchte die Platinblonde Hilfe zu finden. Es überraschte Sue nicht,
daß dieser Umstand sie völlig kalt ließ. Wäre der
Wagen wieder angesprungen, hätte sie keine Sekunde gezögert,
ohne das Mädchen loszufahren. Die Tour der "Kannibalinnen" war zu
Ende, das Revier bis zum letzten Halm abgegrast. Sollte die Dumme woanders
was zu fressen suchen...
Sie machten sich auf den
Weg. Nachdem sich die kleine Gruppe eine Weile durch dichtes Gestrüpp
gekämpft hatte, tauchten aus der Dunkelheit die Umrisse eines Hauses
auf, das mindestens so seltsam wirkte wie sein Besitzer, der zweierlei
sein mochte: Retter in Nacht und Not - oder Bote des Unheils. In beiden
Fällen entschärfte das Adjektiv das Substantiv: gutaussehend,
immerhin, dachte Sue und versuchte sich an den angenehm herben Geruch zu
erinnern, den seinesgleichen in den Betten verströmte - es mißlang.
Zu lange her; eine verdammte Ewigkeit, wie ihr schien. Sie wollte kurz
prüfen, ob die Glock noch entsichert war, doch als sie an ihre Seite
griff, bemerkte sie, daß sie die Handtasche unterwegs verloren haben
mußte.
Die
große Pendeluhr schlug drei, als der Mann die Kerzen über dem
Kamin anzündete. "Verzeihen Sie, die meisten Birnen sind gestern
nacht durchgebrannt; Blitzschlag ... hatte leider noch keine Zeit...".
Er ließ den Satz in der Luft hängen und versuchte umständlich
und mit verlegener Geste, Feuer im Kamin zu machen. Der Mann hatte sich
als Alexander Kaempf vorgestellt, und er schien ungefähr in ihrem
Alter zu sein. Sue hätte es gern genauer gewußt, aber sie kanalisierte
ihre diesbezügliche Neugier, indem sie mit den Augen flüchtig
das heillose Durcheinander des Wohnzimmers nach Besonderheiten absuchte,
die Aufschluß über seine Tätigkeit geben konnten. Offenbar
hatte er was mit Medizin zu tun - auf sämtlichen Tischen, Sesseln
und sonstigen möglichen und unmöglichen Ablageflächen lagen,
teilweise aufgeschlagen und passagenweise mit Leuchtstift markiert, medizinische
Bücher; davon abgesehen, stank es im ganzen Haus penetrant nach Desinfektionsmittel.
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