"Wir
müssen los!" Sue riß Miriam vom Hocker. Sie zog das zierliche
Mädchen mit sich, ohne darauf zu achten, ob die anderen nachkamen.
Es galt, den Schatz, den Orloff abfällig "Frischfleisch" genannt hatte,
vor den Mächten in Sicherheit zu bringen, die sich seiner jederzeit
bemächtigen konnten.
Draußen stiegen sie
wortlos in den Wagen, und Sue startete. An und für sich ein simpler
physikalischer Vorgang, der in der Regel durch einen winzigen Zündfunken
ausgelöst wird, und doch eine Angelegenheit, die Sues Geduld mitunter
auf die Probe stellte. Der Mechaniker des Pannendienstes hatte ihr gestern
nacht die Zündung noch einstellen können, sie jedoch unmißverständlich
darauf hingewiesen, daß die Lichtmaschine jederzeit den Geist aufgeben
konnte. Doch diesmal klappte es. Der Motor sprang an, und schon wenige
Sekunden später wurde der Wagen vom nächtlichen Verkehr verschluckt.
Manchmal trafen simple Worte
die Sache besser als verknotete metaphorische Vergleiche, die irgendwann
irgendwo endeten, ohne letztendlich ein bestimmtes Grundgefühl korrekt
zum Ausdruck gebracht zu haben: Sue mochte Miriam, die Stumme (vielleicht,
weil nur ihre Augen sprachen und sie sonst stets die Klappe hielt), und
sie haßte Hannah, die Dünne, wie einen zu weichen Schiß,
der sich nicht einmal mit dem besten Klopapier restlos aus den unteren
Körperregionen entfernen läßt. Angela, die Dumme, war
ihr schlicht egal - ein Mädel aus der Stadtrandsiedlung. Nicht Gosse,
nicht Uptown; irgendwas zwischen Beton und Zweckbau, irgendwas
zwischen einem Alten, der sich von ihr den Bauern abreiben läßt,
und einer Mutter, die vom Brustkrebs aufgefressen wird. Mit anderen Worten:
Social Tilt und ab ins Leben, das sich gleich einmal von seiner besten
Seite zeigt: Abtreibungsklinik, Dutzende abgebrochene Lehrstellen und
beginnende Zahnfäule. Die letzten Hoffnungsschimmer, an die man sich
dann noch klammern kann, sind das einigermaßen nette, wenn auch
ordinäre Gesicht und die tadellose Figur. Und letztere bringt einem
wenigstens einen Go-go-Job ein. Dabei brachte Angela keineswegs die an
sich schon geringen geistigen Anforderungen für dieses Arbeitsfeld
mit. Jeder verdammte Kerl, dem sie auf der Tour über den Weg gelaufen
waren, hätte die Dumme mit einem dreckigen Lächeln und einem
kurzen Rolex-Scheppern abschleppen können. Sue hatte es längst
satt, ständig hinter ihr herzulaufen wie eine Glucke. Und wenn Orloff
das Fleisch der Dummen gefordert hätte, wäre die Glock an ihrem
Platz im Handschuhfach geblieben. Doch der schlaue, fette Gott in seinem
heiligen Reich aus dunkelrotem Plüsch entschied sich nicht für
die stinkende Dürre (wer konnte es ihm verdenken?), nicht für
die platinblonde Dumme, sondern ausgerechnet für die, die Sue aus
unerfindlichen Gründen am Herzen lag ... vielleicht, weil nur ihre
Augen sprachen und sie sonst stets die Klappe hielt.
"Du
hast da so ´ne Stumme in der Truppe, Sue", hatte seine Stimme am
anderen Ende der Leitung geschnarrt. "Bin interessiert an der Kleinen.
Wenn du morgen Abend mit deinen Babes hier eintanzt, dann läßt
du mir die da; und du verpißt dich nach der Show - das übliche
Prozedere, capisce?!"
Sue schüttelte die Szene
mit einer verhaltenen Geste ab wie einen lästigen Fliegenschwarm und
wandte sich mit einem kurzen Blick nach hinten zu Angela. Sie tat es, weil
sie keine Lust hatte, mit Hannah zu reden, und weil Miriam schlief.
"Zünd´ mir ´ne
Kippe an!"
"Wo sind die denn?" Schon
wanderten die schlanken Arme der Platinblonden zwischen den Vordersitzen
hindurch, um das Armaturenbrett nach Zigaretten abzusuchen. Dabei drückten
sie unabsichtlich Sues rechte Hand vom Lenkrad. Sue riß den Wagen
wieder in die Spur.
"Eine von deinen, verdammt!"
Die dumme Angela war nicht
einmal sonderlich sympathisch, aber immerhin ein Lächeln wert, oder
ein freundliches
Wort. Auf Hannah ließ sich diese indifferente Haltung nicht übertragen.
Sues Abneigung gegen das Mädchen war so groß, daß sie
die Glock am liebsten einmal mehr an diesem Abend ziehen würde, um
dem fleischgewordenen Semikolon mit einem Schuß den Punkt über
dem dürren Komma wegzufetzen.
"Es hat keinen Sinn", sagte
sich Sue leise vor. Immer und immer wieder flüsterte sie die Worte,
die sich wie eine Formel in ihr Gehirn eingebrannt hatten. Und es war in
der Tat einfacher, Hannah in Ruhe zu lassen und stattdessen Angela zu prügeln,
wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Sue betätigte den Blinker
und bog auf eine Raststation ein. "Wer muß, soll jetzt gehen!"
*
Sues Handrücken krachte
auf Angelas Schläfe.
Sie
hatten eine Stunde zuvor an einer Tankstelle mit angebautem Minimarkt
und Café gehalten, und die Mädels hatten sich auf der Toilette
in aller Eile abgeschminkt. Sues offen zur Schau getragene schlechte Laune
hatte wohl dazu beigetragen, daß keines der Mädchen danach
zu fragen wagte, warum sie nicht in einem Hotel übernachtet hatten
und stattdessen schon in den frühen Morgenstunden aufgebrochen waren.
Die Truppe fand sich wie immer schnell mit den Tatsachen ab. Keine Fragen,
keine Antworten - diese Gepflogenheit sorgte seit Beginn der Tour für
einen reibungslosen Ablauf des Uhrwerks, das die Zeit der "Kannibalinnen"
in kleine Sektoren einteilte, in sich geschlossene Zeiteinheiten, in denen
alles seinen gewohnten Gang ging. Jetzt war also, warum auch immer, Eile
angesagt. Sue hatte tatsächlich an der Raststation gehalten, um später
nicht zuviel Zeit zu verlieren. Und dann das...
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