Officer
Ruth Berger läutete. Keine Reaktion. Sie läutete noch einmal.
Dieses verdammte Haus war so stumm, so unsagbar stumm, daß Ruth beinahe
Angst hatte, diese nahezu abstrakt wirkende, nicht in Worte zu fassende
Stille würde ihr die Kehle abschnüren. Dieser eine verfluchte
Monat noch, und dann bist du weg von dem Verein, dachte sie. Und dann: Verfrachte
die Kleine wieder in den Wagen, und schmeiß´ sie an der nächsten
Bushaltestelle raus - aber bitte verschwinde endlich von hier! Es macht
keiner auf, also ist auch keiner da, verdammt! Ein leises, aber bitteres
Lachen entkam ihr. Diese Leute mußten bei Kaempf sein - Ruth hatte
die blöde Handtasche auf dem Weg zum Haus gefunden, und das Mädchen
hatte das Accessoire dummerweise wiedererkannt. Wie sie es auch drehte und
wendete, so einfach konnte sie jetzt nicht von hier verschwinden. Ruth war,
als würden sämtliche Vertreter des vermaledeiten Systems auf sie
herabblicken und lauthals "Sorry, aber du mußt da jetzt rein!" rufen.
"So, so, Officer, Sie haben
also die Handtasche gefunden, aber im Haus war nichts zu hören. Allgemein
bekannt ist jedoch, daß dort einer herumstreift, der nicht ganz richtig
im Kopf ist."
"Verzeihung, Sir, aber der,
von dem Sie reden, ist bereits unter der Erde..."
"Wie auch immer - für
die Untersuchungskommission ist das ein eindeutiger Fall von Gefahr in
Verzug; eine Situation, in der Sie nicht effektiv reagiert haben. Das wird
sich in Ihrem Dienstzeugnis niederschlagen."
Sie sah die Schlagzeilen
schon vor sich: "Police Officer wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt"
Die zynischen Artikel der Boulevardblätter waren Ruth egal, auch eine
mögliche Suspendierung, aber ihren neuen Job würde sie sich an
die Wand tapezieren können: als die beste aller Chancen, die sie nur
verpaßt hatte, weil sie ihre Uniform im letzten Dienstmonat lediglich
als Operettenkostüm betrachtet hatte...
"Ich versteh´ es ja
irgendwie - aber warum, zum Teufel, haben Sie keine Verstärkung angefordert?!"
Was würde sie auf die
zu erwartende Frage des Captains antworten? "Hab´ keine Lust dazu
gehabt..."
Und dann erst Tonis Gesuder:
"Verflucht, Ruth, ich reiß´ mir den Arsch auf für dich,
lasse meine Verbindungen spielen, und dann das!"
>Ehe sich Ruth ihre Zukunft
in noch dunkleren Farben ausmalen konnte, hatte ihre Hand bereits die Initiative
ergriffen. Sie drückte vorsichtig, aber eben doch gegen das verschmierte
Fenster. Leise knirschend schwang es auf, und im nächsten Augenblick
fand sich Officer Ruth Berger bereits im Flur des Kaempf-Hauses wieder.
Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe tastete sich an den schimmligen Wänden
entlang, bis sein Lauf von einer Tür gebremst wurde, die einen kleinen
Spalt offenstand.
*
Unten im Keller roch es nach
Hannahs Schweiß und - was noch viel besser war - nach Tod. Noch
immer eins mit
dem Körper des monströsen Wesens, genoß Sue nun endlich
die Augenblicke höchsten Glücks, und sie fühlte, wie die
körperliche Lust den monströsen Wirtsleib zu sprengen drohte.
Und während ihr neues Geschlecht ein letztes Mal heftig in Hannahs
tote Grotte stieß und sie das unbeschreibliche Gefühl der Befriedung
auskostete, bemerkte sie, daß Miriam den Raum betreten hatte. Das
Monster namens Sue erhob sich langsam und streckte die Hand nach dem weichen
Gesicht des Mädchens aus.
Weder schrie Miriam, noch
deutete eine Regung darauf hin, daß sie Angst hatte. Das Mädchen
schloß lediglich die Augen und ließ es einfach geschehen. Ob
sie wußte...? Nein, das war unmöglich - die Symbiose hatte sich
nicht in der ihnen bekannten Dimension vollzogen. Etwas Unerklärliches
war passiert, etwas, das Sue nach wie vor Angst einjagte und sie zugleich
glücklich machte. War es eine endgültige Verwandlung? Würde
sie je wieder zu dem werden, was sie noch vor wenigen Stunden gewesen war?
Oder würde die todbringende Gier von nun an ihr ständiger Begleiter
sein? Schon griff Sues unförmige Pranke nach dem Hals des Mädchens,
das noch immer die Augen geschlossen hielt. Und im Augenblick, da Sue überlegte,
wie es wohl wäre, Miriams schlanken, schönen Hals zu zerquetschen,
ließ sie ein leises Geräusch aufhorchen. Deutlich hatte sie
es durch den Belüftungsschacht gehört...
*
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