Inhalt Prolog Baby,
the last dance
Die letzte Streife Der Traum Morgentod
Angst

Scheiße!" zischte sie leise. Aber Ruth hätte die Situation am liebsten laut verflucht. Letztendlich spuckte sie die Worte, die ihre Wut ohnehin nur annähernd zum Ausdruck bringen hätten können, doch nicht aus, weil es zu spät war, weil es jetzt ja keinen Sinn mehr hatte. Zwei Leichen im Wohnzimmer, ein hysterisch schreiendes Mädchen, das immer lauter kreischte, bis in Ruths Kopf der Schalter kippte. Scheiß´ auf professionelle Polizeiarbeit, scheiß´ auf Verstärkung, auf Dienstzeugnisse und auf Gefahr in Verzug! Irgendwo in diesem verfluchten Haus trieb sich jemand herum, der wenig Sinn für ethische Werte bewiesen hatte. Ruth schnappte das Mädchen und stieß es ins erstbeste Zimmer, an dessen Tür ein Schlüssel steckte. Dann schloß sie ab. Das wäre erst einmal erledigt. Sie zog den .38er Police Special Double Action aus dem Halfter und machte sich daran, das letzte Problem in den Griff zu bekommen. Um die Leichen würden sich später andere kümmern, und um Schuld und Sühne sowieso.

"Wer auch immer du bist, ich reiß´ dir deinen verdammten Arsch auf!"

Die Uhr im Wohnzimmer schlug fünf - Officer Ruth Bergers Streife wäre genau in diesem Moment offiziell zu Ende...

*

Eigenartig, wie schnell es gehen konnte. Noch Sekunden zuvor hatte die eingeschlossene Angela angesichts der zum Monster mutierten Sue wie eine Verrückte zu schreien begonnen. Und mit einer Kraft, die Sue noch nie in sich gespürt hatte, war es ihr gelungen, den Schädel des Mädchens abzureißen, wie den einer billigen Puppe. Jetzt wurde der Kopf der Platinblonden lediglich von einem Hautfetzen am Körper gehalten. Und ausgerechnet in jenem Augenblick, da Angelas letzter schriller Schrei sich in den Winkeln des verfluchten Hauses verflüchtigte, da Sue ihrer Sucht erneut nachgeben hätte können - wie sehr interessierte sie all das, was unter der feinen Haut des Mädchens verborgen lag - erwachte sie.

Ja, sie erwachte, wie nach einem Traum, der gefährlich schön gewesen war. Enttäuscht kehrte sie zurück von ihrer aufregenden Reise - ihr Kopf schmerzte, und der milchige Schleier verhinderte, daß sie ihre Umgebung sofort wiedererkannte. Sie lag im Wohnzimmer, und plötzlich entpuppte sich ein Teil des Traums als Realität: Neben ihr lag mit durchgebissener Kehle Alexander Kaempf. Noch bevor Sue imstande war, die Ereignisse zu filtern - was war tatsächlich passiert, was hatte sie nur geträumt? - und den gegebenen Umständen zuzuordnen, formte sich langsam ein dreidimensionales Bild vor ihrem geistigen Auge, das bereits nach wenigen Sekunden eine verzerrte und doch plastische Form angenommen hatte: Sue konnte deutlich sehen, wie das Wesen, das sie noch vor kurzem gewesen war, trotz seines plumpen Körperbaus nahezu lautlos die Treppen zum Dachboden hinauflief. Und dann erkannte sie Miriam, die auf dem Boden kauerte und weinte, und auch eine Frau in Uniform - Sue hatte sie noch nie zuvor gesehen -, die mit dem Mädchen sprach und keine Antwort erhielt; weil Miriam nun mal nur mit den Augen sprach und sonst stets die Klappe hielt...

Dumm, daß Officer Ruth Berger den Police Special wieder ins Halfter gesteckt hatte. Noch bevor sie das Mädchen in die Höhe ziehen konnte, erschien das Monster, das sie auf Anhieb wiedererkannte: der "Kaempf-Trottel"! Er schleuderte einen blutigen Kopf von sich, und keine Sekunde später schloß sich seine gewaltige vernarbte Hand um Ruths Hals.

"Verdammt, warum...?!" stieß sie noch hervor, dann ging Ruth röchelnd zu Boden, und ihre Träume und Hoffnungen verflüchtigten sich wie loses Herbstlaub im Wind. Und wieder begann es im Hause Kaempf nach Tod zu riechen...

Die Fata Morgana des Todes jagte Sue kalte Schauer über den Rücken. Obwohl sie im Wohnzimmer stand, schien der blutige Schädel, der einen Stock höher auf dem Dachboden lag, greifbar nahe zu sein - einem achtlos weggeworfenen Teil gleich, durfte der Dummen platinblonder Kopf neben dem ausgeweideten Körper der Polizistin im diffusen Licht der schwachen Deckenlampe ein letztes Mal wie Flitter glänzen. Sue spürte, daß die Zeit zum Handeln gekommen war. Ihre Augen versuchten, irgendein Hilfsmittel zu erfassen. Ein Hilfsmittel im Kampf gegen das monströse Unbekannte, das oben auf dem Dachboden schon bald erneut morden würde. Langsam hatte es sich Miriam genähert, die sich nicht von der Stelle rührte, sondern das Geschöpf nur mit ihren dunklen Augen ansah.

Schon legten sich oben zwei kräftige, klobige Hände um Miriams Hals, und Sue spürte unten unbändige Lust, anstelle der Kreatur kraftvoll zuzudrücken. Sie steckte zwar nicht mehr im Leib des Monsters, aber dafür hatte ein Teil dieses Wesens von ihrem Körper Besitz ergriffen: der Trieb zu töten und immer wieder zu töten, bis der Blutdurst gestillt war. Ihre Körper waren nicht mehr eins, aber sie waren durch einen unsichtbaren Faden untrennbar miteinander verbunden. Sue und das Wesen beeinflußten, fühlten, genossen einander. Plötzlich wurde Sue schlagartig bewußt, daß sie im Begriff war, das zu töten, was ihr am liebsten auf dieser verdammten Welt war - mehr noch: daß sie, auf ewig mit dem todbringenden Werkzeug verbunden, das Blut des Mädchens schmecken und ihren toten Körper mit Küssen bedecken wollte. Es gab nur eine Möglichkeit, diese Gier endgültig zu besiegen. Sues Hand griff nach einem kalten Stück Metall, das im fahlen Licht der Kerzen matt auf dem Boden glänzte: ein Skalpell. Es mußte aus Alexanders Hosentasche gefallen sein. Sie klammerte sich an das Instrument, als würde es ihr Halt bieten, im letzten, alles entscheidenden Kampf ... gegen sich selbst. Und langsam stieg sie die Treppe zum Dachboden hinauf, um es hinter sich zu bringen.