Inhalt Prolog Baby,
the last dance
Der Traum Angst Morgentod
DIE LETZTE STREIFE

Die Kollegen vom Tagdienst gingen wie üblich geschlossen - und ohne den traditionellen Umweg über Ricos Branntweinbude auszulassen - nach Hause. Auf die meisten von ihnen wartete trotz der bevorstehenden kollektiven Weinseligkeit nichts anderes als auf Officer Ruth Berger, die soeben den Streifenwagen Nummer 15 startete und den Kollegen, während der Wagen über die Rampe rollte, zum Abschied noch einmal kurz zulächelte. Die immer wiederkehrende Einsamkeit der Abende, die im Laufe der Jahre unerträglich zu werden drohte, würde jene, die nach Hause oder sonstwohin gingen, in der gleichen Intensität treffen wie Ruth, deren Streife soeben begonnen hatte. Erst wenn die ekelhaft stumpfen Strahlen der Morgensonne hinter den umliegenden Hügeln auftauchten, um wenig später in der Nase zu kitzeln, würde die Fahrt durch die Einöde vorbei sein - oder auch schon früher. Kam darauf an, ob Officer Berger einem besoffenen Idioten den Führerschein abnehmen mußte. Aber aus zweierlei Gründen kam das selten vor: Einerseits fiel Ruth die Schreibarbeit im Büro auf den Wecker, und andererseits mußte sie seit den rigorosen Personalkürzungen im vergangenen Frühjahr allein auf Streife fahren - kein Beamter des Departments hatte große Lust, vermeintlichen Verkehrssündern, die unter Umständen mehr im Kofferraum hatten als Pannendreieck und Verbandskasten, ohne Partner auf den Pelz zu rücken. Nicht, wenn man dem Restrisiko die monatlichen Überweisungen des Ministeriums gegenüberstellte.

Ruth drehte den Funk auf minimale Lautstärke und steckte die alte, abgegriffene Kassette ins Einschubfach des Radios: Mozarts "Kleine Nachtmusik" tauchte die nächtliche Gegend in ein geniales Notenmeer, das Ruths Zukunftsangst zwar nicht schmälerte, aber wenigstens die Gedanken in eine positive Richtung lenkte. Am Monatsende würde sie ihre Kündigung einreichen, und bis dahin hieß es D. n. V. - Dienst nach Vorschrift. Toni hatte ihr gestern im Office zugeflüstert, daß die Sache mit dem Sicherheitsdienst unter Umständen klappen würde. Wieder einmal wußte Ruth nicht, für welches Gefühl sie sich entscheiden sollte. Sollte sie glücklich sein oder gar stolz, weil sie im Frühjahr ein kleines Vermögen in einen Sprachkurs in der Stadt investiert hatte und sich dieser Umstand letztendlich positiv ausgewirkt haben dürfte? Oder sollte sie Angst haben, weil Toni ja doch nichts Genaueres zu berichten wußte?

"Ich kann dir bloß sagen, daß dieser Typ von der UNO zu Gruber gesagt hat, sein Vorgesetzter hätte gemeint, sie würden dich nehmen..." Ruths Gedanken wurden durch eine plötzliche Wahrnehmung manipuliert, die stets an der gleichen Stelle für einen abrupten Höhepunkt der an sich öden Dramaturgie der nächtlichen Fahrt sorgte: Der Wagen passierte den Kilometerstein 18. Ein Stück dahinter, mitten in einem nahezu undurchdringlichen Urwald aus Gestrüpp und Dornenhecken, lag das Haus, das nicht nur den Leuten der Gegend bestens bekannt zu sein schien - diese Typen aus Hollywood mußten die schiefe Hütte offenbar auch kennen. Gut sogar. Jedenfalls erkannte Ruth dieses vermaledeite Gebäude in jedem schlechten Horrorfilm aus Bubi Kleins Videothek wieder, und auch in jedem Double-Feature nach Mitternacht, wenn sie diese alten Schwarzweiß-Heuler aus den Fifties im Kabel brachten.