Sue
hatte keine Ahnung, warum sie es Alexander nun doch leichter machte, als
sie es anfänglich vorgehabt hatte. Seine Arme schlangen sich sanft
um ihren Oberkörper, und sie öffnete vorsichtig den Mund, um seiner
Zunge das vorletzte Hindernis aus dem Weg zu räumen. Alles passierte
viel zu schnell, als daß Sue die Kernfrage beantworten hätte
können: Warum ausgerechnet er? Noch während sie Alexanders Drängen
nicht einmal nachgab, er aber bereits die obersten Knöpfe ihrer Bluse
geöffnet hatte, bemerkte Sue aus den Augenwinkeln, wie sich die Tür
zum Wohnzimmer öffnete. Schon hatte sie den Satz parat, den sie Hannah
ins Gesicht schreien würde, oder aber die sanften, beschwichtigenden
Worte, die sie in ihrem Sprachzentrum stets für die stumme Miriam bereithielt.
Sekunden später mußte Sue erkennen, daß keine der alternierenden
Möglichkeiten in Betracht zu ziehen war.
"Verflucht,
wie hat er sich befreien...!?" Kaempf kam nicht mehr dazu, die Frage vollständig
zu formulieren. Als er dem ersten Angriff des monströsen Wesens rückwärts
ausweichen wollte, stolperte er und stieß einen kurzen Schrei aus.
Im nächsten Augenblick stürzte sich die Kreatur auf ihn und
verbiß sich in seiner Kehle. Es war Sue unmöglich, dieses keuchende,
grunzende Monster, das nicht mehr von Keampf ablassen wollte, einer bekannten
Kategorie zuzuordnen. Sie schaffte es gerade noch, die geläufigsten
Merkmale - Gesichtszüge, Extremitäten - mit dem gewohnten Äquivalent
in Verbindung zu bringen, um dann doch an dieser eigenartigen, grobschlächtigen
Spezies
zu scheitern, die so ganz und gar nicht zu den bekannten Arten zu gehören
schien. Noch bevor Sues erstickter Schrei ihren weit aufgerissenen Mund
zur Gänze verlassen hatte, packten sie kräftige Arme und schleuderten
sie durchs Zimmer. Ihr Schädel knallte gegen den Parkettboden. Die
letzten klaren Gedankenfetzen schienen sich in konzentrischen Wellen vom
Körper fortzubewegen, bis schließlich schwache, verschwommene
Bilder die Herrschaft über ihr Gehirn übernommen hatten. Gleichzeitig
begann Sue über der Szene zu schweben, und je weiter sie sich entfernte,
desto klarer wurde seltsamerweise ihre Wahrnehmung. Deutlich sah
sie Alexanders zerfetzten Hals, bekam in aller Deutlichkeit mit, wie er
vergeblich nach Luft rang und wie ihn schließlich die Kräfte
verließen.
Mittlerweile war die Kreatur
ebenso schnell aus dem Raum verschwunden, wie sie zuvor scheinbar aus dem
Nichts aufgetaucht war. Doch Sue hatte keine Zeit, über den Verbleib
des Wesens nachzudenken - ihre Sinne hingen gebannt an ganz anderen Eindrücken:
Sie verließ nun den ihr bekannten Mikrokosmos, um sich wenig später
in einer Sphäre wiederzufinden, die über den Räumen des
Hauses zu liegen schien und doch in den baufälligen Mauern eingesperrt
war. Die unsichtbaren Klauen dieses verwunschenen Hauses krallten sich
an der Situation fest, als gelte es, mit jeder weiteren gegenständlichen
oder aber abstrakten Beute ins Unermeßliche zu wachsen. Es gab kein
Entrinnen, weder für Sue und ihre neue metaphysische Umgebung, noch
für die nichtsahnenden Mädchen im Gästezimmer, und auch
nicht für diese seltsame Kreatur, die den Tod über sie alle brachte...
Sue
war es nun möglich, zu beobachten, was ein gutes Stück unter
ihrem Astralleib vorging. Sie sah, wie die Dürre unten im Bett neben
Miriam erwachte, und sie spürte die Irritation des Mädchens,
die sich auf ihr körperloses Ich übertragen hatte. Die Dürre
wandte nun den Kopf zur Seite und berührte kurz die dunklen Locken
der anderen. Dann wanderte ihre Hand langsam an Miriams regungslosem Körper
entlang, bis ihre Fingerkuppen am Schambein der Stummen angelangt waren.
"Laß die Finger von
ihr!" Sues Stimmbänder versagten bereits nach der ersten Silbe. Kein
Schall hier oben in der Sphäre, die sie umgab, nicht einmal Sauerstoff
- jetzt erst bemerkte Sue, daß sie nicht mehr atmete, daß ihr
Herz nicht mehr schlug...
Deutlich hörte Sue jetzt die
beiden Fragen, die Hannahs geistige Stimme formulierte, während die
Finger des Mädchens vorsichtig um Miriams Scham kreisten: "Warum
leckst du sie nicht einfach, bis sie aufwacht?" und "Shit, was hat
dich eigentlich geweckt?" Offenbar ließ sich keine der beiden Fragen
zufriedenstellend beantworten. Wahrscheinlich, weil die innere Stimme
die Fragen in zu knapper Folge gestellt hatte. Langsam ließ
Hannah vom Körper der Stummen ab. Dann stand sie auf und tastete
sich vorsichtig durch den dunklen Raum,
bis sie den Lichtschalter gefunden hatte. Draußen im Flur ging sie
nach links zum Wohnzimmer, dessen Tür noch immer offenstand. Hannahs
inneres Organ hielt sich nun vornehm zurück. Weder stellte es Fragen,
noch bot es dem Instinkt ein ausreichendes Kommunikationsmittel, um die
Dürre zu warnen. Sie hatte zu zittern begonnen, als sie das Wohnzimmer
betrat. Und obwohl die Stimme in der Regel klüger war als das Gehirn,
in dem sie saß, gab es offenbar auch für sie Momente, in denen
die Antworten auf wichtige Fragen nicht bekannt waren: Warum lagen Sue
und dieser Typ am Boden, warum rührten sie sich nicht mehr, und -
vor allem - wer hatte die beiden so übel zugerichtet?