Stauwarnung!
Sue wechselte die Fahrspur und schaltete zurück. Das Leben mußte
auf der zweiten Spur warten; und somit war auch der Angst eine Ruhepause
vergönnt. Der Kopf hatte gegenwärtig mit anderen Eindrücken
nebst einer Vielzahl an Aktionen fertig zu werden: bremsen, anfahren, bremsen,
wieder anfahren und wieder bremsen und so weiter, bis die Floyd Dakil Four
die letzten Takte ihres "Bad Boy" aus dem Toshiba-Radio geprügelt
hatten. Mittlerweile hatte sich die Autobahnbeleuchtung eingeschaltet.
Analog dazu wurde der erwachende Mond von einer großen Wolke verschluckt,
als wären die Vertreter der New Economy dazu übergegangen, nicht
mehr nur verdiente Mitarbeiter, sondern auch den Erdtrabanten aus dem Unternehmen
TerraX zu feuern. Doch der Himmelskörper ließ sich nicht asskicken
- er war offenbar Mitglied einer starken Gewerkschaft -, denn schon nach
wenigen Minuten tauchte er hinter dem breiten Wolkenband wieder auf, um
den Kampf gegen die Mechanismen globaler Ungerechtigkeit wieder aufzunehmen.
"Du
entgehst deinem Schicksal nicht!" Die grellen Neonbuchstaben der "Neuen
Bruderschaftskirche" zogen langsam in einiger Entfernung an Sues Auge vorbei.
Sie trat das Gaspedal durch, als gelte es, vor der Prophezeiung davonzulaufen,
die letztendlich vielleicht doch eintreten würde. Ganz egal, wie weit
man gelaufen war, irgendwann erwischte einen das Unvermeidliche ja doch.
Aber zuvor hieß es laufen, laufen, laufen, bis einem die Luft ausging,
bis sich der Lebenswille verflüchtigt hatte wie Zigarettendunst nach
einer Gruppensexparty. Nur der seifige Geschmack von Sperma würde
bleiben, und die Striemen von den Peitschenhieben. Die Gedanken starteten
den verzweifelten Versuch, Erfahrungswerte mit bevorstehenden Ereignissen
zu verknüpfen, und landeten schließlich doch bei der üblichen,
wehleidigen Selbstreflexion, die immer wieder das gleiche Ergebnis zu Tage
brachte: Sieben Jahre Strich prägen; sieben Jahre Schwänze blasen
prägt auch; und sieben Jahre die Muschi für die Ewigkeit der
Triebe feucht halten prägt erst recht, macht aber weniger kaputt,
als es nicht zu tun. Sue war zur beliebig bewegbaren Puppe geworden, deren
sensible Motorik lediglich die Bewegungen der Gliedmaßen zu koordinieren
und das Eigengewicht des Körpers zu tragen vermochte. Um das schlechte
Gewissen kümmerte sich eine andere Mechanik, die im Inneren des hölzernen
Puppenleibes ausgesprochen träge funktionierte. Nur auf der Autobahn,
wenn die Cicadelics und die Countdown 5 ihre Fuzztone-Gitarren im Radio
malträtierten, gelang es den kleinen Zahnrädern im Inneren des
Puppenkörpers, den Gedankenfluß in eine andere Richtung zu lenken
und Sue gewisse Ereignisse für wenige Stunden vergessen zu lassen.
Wenn sie dann die Abfahrt erreicht hatten, krachte dieses verdammte Black
in Sues Pupille. Es kündigte unheilvoll den nächsten Plotpoint
an; und mit einem Mal wurden die Erinnerungen von einem unsichtbaren Gummiband
wieder in jene Bahn gezogen, aus der sie zuvor entkommen waren.
"Okay,
Sue, sollst frei sein wie ein Vogel - tu meinetwegen, was immer du willst,
manage ´ne Tanztruppe - aber dafür versorgst du uns mit Frischfleisch,
capisce?"
Natürlich hatte sie
kapiert und auch immer gemäß der "Empfehlung" des "großen"
Orloff gehandelt: Truppe zusammenstellen, Tour zusammenstellen, und am
letzten Abend verschwindet eines der Mädchen im Labyrinth ohne Ausgang.
Keine Rückfahrkarte. Wenn sie einem erst Arme und Beine ausgerenkt
hatten, blieb nur ein Weg offen, und der führte nie dorthin zurück,
wo alles angefangen hatte.
Sue konnte die Leuchtschrift
jetzt nicht mehr im Rückspiegel sehen, doch der flüchtige Eindruck
hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Jetzt trat der letzte Reflex vom Augenwinkel
des Puppenauges seinen Weg ins Innere des hölzernen Kopfes an, wo er
schließlich in einem Ordner landete, den der universelle Geist sinnigerweise
"Erinnerungen, bleibende" benannt hatte. Gleichzeitig startete vor ihrem
geistigen Auge das Splatter-Movie zur Prophezeiung. Noch heute Nacht sollte
der blutige Blockbuster seinen ersten dramatischen Höhepunkt erfahren.
Nichts würde Holzpüppchen Sue von ihrem Entschluß abbringen
können, Orloff die Gedärme aus dem Bauch zu fetzen. Sie warf einen
Blick in den Rückspiegel - Angela und Miriam schliefen hinten auf dem
Rücksitz. Neben ihr auf dem Beifahrersitz war die dünne, unansehnliche
Hannah mit dem Üblichen beschäftigt: Das Mädchen
füllte sich mit billigem Bier ab, das sich, wenige Augenblicke, nachdem
es vom Zwölffingerdarm absorbiert worden war, über die Schweißdrüsen
wieder aus ihrem dürren, stinkenden Körper verabschiedete. Und
all diese chemischen Prozesse passierten, während Hannah mit hängender
Kinnlade aus dem Seitenfenster starrte. Speichel glitzerte an ihren Mundwinkeln.
Er reflektierte das Licht des Mondes, warf es wieder hinauf in die Ewigkeit,
und damit bestätigte sich erneut: Dort oben ist alles besser. Wahrscheinlich
hatte Hannah die Prophezeihung auf der frisch getünchten Fassade der
Sektiererkirche auch gelesen, sich dabei aber nichts gedacht, wie es nun
mal ihre Art war.
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