Fortsetzung...
In den darauffolgenden Tagen in den Alpen und Pyrenäen wiederholte sich der Zweikampf mit dem gleichen Ergebnis noch viermal. Das Klassement wurde auf diesen Etappen gemacht; merkwürdig nur, daß in diesem Jahr keiner der Zuschauer wirklich enttäuscht war. "Ullrich war der Beste, nur Armstrong war noch besser", sagte der "Eurosport"-Kommentator Toni Rominger gleichermaßen treffend wie semantisch unsinnig. Ullrich bewies Moral und verwies die spanischen, italienischen und kolumbianischen Kletterkünstler Tag für Tag auf die hinteren Plätze. Nur an diesen aufgeblasenen Texaner Armstrong kam er nicht heran.
Lance Armstrong wurde zum Mysterium der Tour 2001, obwohl ihm für seine Leistung eigentlich der größte Respekt gebührte. Daß er zum besten Rundfahrer der Welt werden konnte, daß er diese 2000 Meter hohen Berge mit Abstand am schnellsten erklimmen konnte, ist ein Resultat seiner körperlichen Veränderung. Lance Armstrong war vor sechs Jahren an Hodenkrebs erkrankt; zuvor war er ein "rouleur", stark im Flachland und bei Sprints, ein Mann für Ein-Tages-Rennen. Seine Krankheit, die Chemotherapien und der daraus resultierende Gewichtsverlust machten einen neuen Menschen aus ihm. Armstrong hatte den Krebs überwunden, stand jedoch kurz vor der Beendigung seiner Karriere.
In den ersten Rennen nach seiner Heilung erreichte er das Ziel nicht - er wurde verspottet und von seinem französischen Rennstall vor die Tür gesetzt. Sein Freund Kevin Livingston, pikanterweise in diesem Jahr ein Edelhelfer von Ullrich, überredete ihn, doch weiterzumachen und sich umzustellen. So trainierte Armstrong ein Jahr mutterseelenallein in den Rocky Mountains und wurde zu einem Bergfahrer. Am Ende der Metamorphose standen ein echter Champion und zwei Tour-Siege (1999 und 2000). In Amerika, wo der Radsport sonst kaum eine Rolle spielt, wurde Armstrong zu einem Star, verkaufte seine eher grausamen Memoiren ein paar hunderttausend Mal. Nur in Europa wird er nicht geliebt, daran kann auch die diesjährige Tour de France nichts ändern. Vielleicht liegt es daran, daß er selbst nach den größten Strapazen noch gut erholt wirkt, während seine Widersacher, mit heraushängender Zunge und knallrot, schon rein visuell das Letzte aus sich herausholen. Wäre Jan Ullrich nicht gewesen, so wäre Lance Armstrong in einem sportlichen Paralleluniversum gefahren. Doch zum Glück gab es den 27jährigen Rotschopf (Armstrong ist zwei Jahre älter).
Die Tour entwickelte sich zu einem Zweikampf, nach alten Rollenmustern: Räuber und Gendarm, Cowboy und Indianer, Texaner gegen Mecklenburger. Gut gegen Böse, das spielte sich in den Köpfen der Zuschauer ab. Sie wollten sehen, wie Jan Ullrich ein einziges Mal die Maschine aus dem Takt bringt und selbst davonfährt, nur für die Gedanken. Den Gesamtsieg konnte er nicht mehr holen, aber wenigstens einen Etappensieg? Es sollte nicht dazu kommen.
Nur ein einziges Mal sah es nach einer erfolgreichen Attacke des Telekom-Kapitäns aus. Mit Kevin Livingston griff er an einer extremen Steigung an, Armstrong allein konnte ihm folgen. In einer rasend schnellen Abfahrt legte Ullrich dann los und hängte seinen größten Gegner ab. Livingston lag zwischen Armstrong und seinem Kapitän. In dieser Situation machte Ullrich einen Steuerfehler, verließ die Straße und fiel vor den Augen der Kameras nach unten.
Was für eine Dramatik! Die Tour war zu einem Thriller geworden. Dieses unmenschliche Rennen, High-Tech-Maschinen, eine perfekte Vorbereitung, zwei unerbittliche Protagonisten - und dann verläßt Ullrich das Bezugssystem und rutscht in einen Graben. Einfach grandios! Der Telekom-Mann hatte Glück. Er fiel nicht sehr tief, konnte sich sofort wieder aufs Rad schwingen und blies zur Verfolgung. Armstrong, der Ungeliebte, erwies sich als Sportsmann und wahrer Champion. Anstatt uneinholbar davonzuziehen, legte er die Beine hoch und wartete auf Ullrich. Als die beiden wieder nebeneinander waren, erkundigte sich der Texaner nach dessen Gesundheitszustand. Am Ende dieser Etappe hatte Lance Armstrong - dank seiner Technik und seines niedrigeren Gewichts - Ullrich erneut bezwungen. Ihm und Ullrich standen die Tränen in den Augen.
Es gab eine Reihe weiterer denkwürdiger Augenblicke bei der Tour 2001. Fast täglich hörte man vom "Sieger Radsport"; nach all den Doping-Skandalen rückten in diesem Jahr wieder der Sport und die Dramatik in den Vordergrund der Tour de France. Der große Sieger auf den Champs-Élysées heißt Lance Armstrong, der große Zweite Jan Ullrich. Gewonnen haben tatsächlich beide. Es bleibt zu hoffen, daß das Popspektakel Tour de France 2002 wieder mit diesen beiden Topacts stattfindet.