Alle Jahre wieder treffen sich 180 Radrennfahrer, darunter die besten der Welt, um an einem unmenschlichen Wettbewerb teilzunehmen, der in diesem Jahrtausend eigentlich durch und durch anachronistisch wirken müßte - und doch genau das Gegenteil erreicht. Die Rede ist von der Tour de France.
Nach einigen Andeutungen in den Vorjahren hat die Tour in diesem Jahr in Deutschland eine Metamorphose vollzogen, die noch vor acht bis zehn Jahren utopisch erschien: sie ist zu einem Pop-Phänomen geworden, einem Teil der gesellschaftlichen Kultur. Bis zu sechs Millionen Fernsehzuschauer wimmerten Tag für Tag vor den Geräten, und die auch von langweiligen Kommentatoren nicht zu unterdrückende Spannung wurde in feuchte Hände übersetzt. Auf den Straßen gehen Schulkinder Schulter an Schulter in erhöhtem Tempo aneinander vorbei, schauen sich ruckartig um und beschleunigen. "Ich bin Lance!" sagt das eine. "Und ich bin Jan!" - so wird die zweite Hauptrolle automatisch besetzt. In dieser spielerischen Adaption der unmenschlichen Schinderei steckt ein Haufen Wahrheit für den Erfolg und Unterhaltungswert der diesjährigen Tour de France. Es ist ein Western, es ist die Renaissance des Räuber-und-Gendarm-Klischees und des liebevollen Respekts vor dem ewigen Zweiten.
Vor der drei Wochen dauernden Radfahrstrapaze dieses Jahres waren sich die Experten - und solche, die dafür gehalten werden wollen - einig, daß die Tour nur auf den Zweikampf zwischen dem Sieger der letzten beiden Rennen, dem Amerikaner Lance Armstrong und dem einmaligen Gewinner Jan Ullrich aus Rostock hinauslaufen würde. Die anderen Spitzenleute würden sich um den dritten Platz auf dem Podest streiten.
Und so sollte das Rennen tatsächlich auch verlaufen. Allzu irritiert waren die Novizen unter den Tour-Zuschauern über die ersten acht Tage des Rennens. Sprinter (in der Tour-Sprache "grimpeurs"), Ausbrecher ("rouleurs") und Außenseiter fuhren Siege ein, trugen die Trophäe des Führenden am Leib ("maillot jaune" - das gelbe Trikot); aber wo blieben Lance und Jan? Sie hielten sich zurück, wohl wissend, daß ihre Zeit noch kommen würde. So bestimmten anfangs die französische Mannschaft von Credit Agricole, gemeinsam mit dem Australier Stuart O´Grady und dem Norddeutschen Jens Voigt, das Rennen.
Überhaupt, diese Team-Namen: Als sei das Sponsoring in den sechziger Jahren stehengeblieben, konnten obskure und teilweise völlig unbekannte Firmen aus ganz Europa ihren Namen promoten. Immer wieder erklärten die Kommentatoren, wer oder was hinter Bezeichnungen wie "ag2R", "Cofidis", "CSC" oder "Euskatel" steht. Aber alle Namen, Firmen und Hintergrundgeschichten rückten in den Hintergrund, als der Tour-Troß die Berge erreichte. Dort werden die Sieger gemacht, dort gibt es Abstände in Minuten und Stunden, dort wird jede Schwäche bestraft.
Die Tour 2001 bekam ihre Form schon auf der ersten Alpenetappe, die zu einem Zielort führte, dessen Name seit jeher eng mit dem Rennen in Verbindung gebracht wird: L´Alpe d´Huez. Die deutsche Telekom-Mannschaft bewies sich zu Beginn der Etappe. Die ersten harten Berge (Madelaine, Glandon - ja, das sind noch Namen!) führten die Helfer von Jan Ullrich im Feld nach oben und erhöhten das Tempo schrittweise. Am Ende des Pelotons fuhr ein erschöpft wirkender Lance Armstrong, der weitaus weniger Mannschaftskameraden um sich hatte als sein deutscher Widersacher. Nach über fünf Stunden näherten sich die Spitzenleute dem Anstieg nach L´Alpe D´Huez, 32 Spitzkehren mit bis zu 14 Prozent Steigung. Armstrong und sein letzter verbliebener Helfer setzten sich prompt an die Spitze, von der Müdigkeit des Favoriten war nichts mehr zu sehen. Und dann der historische Moment: Armstrong dreht sich um, schaut Ullrich zwei, drei Sekunden ins Gesicht und zieht dann davon. Er fährt wie eine Maschine; schnelle Tritte und ein extrem niedriger Gang. Die Experten sind geschockt, das restliche Feld auch, nur Jan Ullrich ist noch in der Lage, zu folgen. Mit einer Minute Rückstand stampft er in seiner wesentlich kraftvolleren Fahrweise den legendenumwobenen Berg hinauf, hinter ihm bleiben die restlichen Favoriten zurück.