Richard H. Kirk, Kopf der legendären Cabaret Voltaire, hat seinen unzähligen Aliasen und Pseudonymen noch eines hinzugefügt: Orchestra Terrestrial. Das vorliegende Album soll die neue Leidenschaft Kirks für klassische Musik illustrieren.
Die musikalische Geschichte von Richard H. Kirk reicht bis ins Jahr 1974 zurück. Gemeinsam mit Gitarrist und Sänger Stephen Mallinder und Elektronikpionier Chris Watson gründete er damals die vom Dadaismus stark beeinflußte Band Cabaret Voltaire. Ein Plattenvertrag mit Rough Trade war schnell unterschrieben, und die Legende besagt, daß das Label seine Dependance in Deutschland nur eröffnete, um der enormen Nachfrage nach Cabaret-Voltaire-Platten nachkommen zu können.
Nach sensationellen Alben als Duo (ohne Watson) wie "The Crackdown" oder "Micro-Phonies", die die elektronische Musik der achtziger Jahre völlig neu definieren sollten, unterschrieben Cabaret Voltaire einen Vertrag mit EMI, die aus der Band ein kommerziell verkäufliches Produkt machen wollten und Kirk & Co. sogar ihren Namen abkauften. Da der große Erfolg jedoch ausblieb, gab der Major die Band wieder auf, und nach einiger Zeit bekamen die Musiker sogar ihren Namen zurück und veröffentlichten von nun an auf kleineren Independent-Labels. "The Conversation" auf Apollo (bereits von Kirk allein eingespielt) wurde zu Cabaret Voltaires Schwanengesang; seither veröffentlichen alle Mitglieder unter verschiedenen Projektnamen diverse Soloalben.
Der Meister solcher Pseudonyme ist Richard H. Kirk - er veröffentlichte unter anderem unter solch einprägsamen Namen wie Sweet Exorcist (wobei er so ganz nebenbei die Bleeps & Clonks-Szene erfand und einem kleinen Label namens Warp zu großem Erfolg verhalf), Robots And Humanoids, Al-Jabr, Dark Magus, Nitrogen, Citrus, XON, Trafficante, Sandoz, Electronic Eye oder eben nun Orchestra Terrestrial. Bisher war all diesen Projekten eines gemeinsam, nämlich Kirks Markenzeichen - pulsierende Beats, oft mit ethnologischen Samples oder den typischen Bleeps. Doch jetzt, mit Orchestra Terrestrial, verzichtet der Meister völlig auf diese Elemente und schafft damit ein schwebendes minimales Sound-Gebilde, das man eher Aphex Twin oder Andrew Lagowski zugetraut hätte.
Wie bei fast allen Veröffentlichungen auf Die Stadt (The Hafler Trio, Asmus Tietchens und vor allem Organum) gibt es auf diesem Album einige Song-Titel in deutscher Sprache: "Einflug", "Kristall", "Abends" usw. - steht das in den Stadt-Verträgen als Verpflichtung oder zollt Kirk damit seinen deutschen Helden Tribut? ("5. Glitzerstrahl" als Titel weckt Assoziationen an Kraftwerks "Autobahn".)
Der erste Track, "Low Definition Alpine D R I F T", fadet ganz langsam ein und baut innerhalb seiner zehneinhalb Minuten eine enorme Spannung auf, die sich in "Einflug" noch dadurch steigert, daß Kirk behutsam einen minimalen Rhythmus entstehen läßt, den er im Ende dann aber doch wieder abbaut, bevor dem Hörer noch die Füsse mitzuwippen beginnen. "Kristall" wirkt wie eine eher unnötige Verlängerung von "Einflug", während "Abends" wie eine alte Cluster-Nummer aus den Siebzigern klingt. "5. Glitzerstrahl" ist die poppigste Nummer des Albums, die sich über acht Minuten so anhört, als würde sie jeden Moment mit einem wilden Rhythmus durchstarten, es aber nie tut. "Near Earth Object", einer der markantesten Tracks, klingt wie zu 100 Prozent von SETI´s "Geometry of Night" LP ausgekoppelt; "Senses and Functions" ist wiederum eine eher schwache Extension des eben genannten Titels. Und mit "Uniform Spaces" beendet Kirk die Platte mit einem deutlichen Oval-Zitat: Die Nummer springt und hüpft durch ihre sechs Minuten, als würde sie permanent von einem Zufallsgenerator zerstückelt.
Alles in allem ist "Here And Elsewhere" das erste Album Kirks, auf dem er so klingt, als zitiere er die Geschichte der elektronischen Musik der letzten zehn Jahre. Wenn man bedenkt, wie oft er selbst kopiert, gesamplet und beklaut wurde, so möge ihm diese Umkehrung auch einmal zustehen. Was das Ganze allerdings mit Kirks Neuentdeckung klassischer Musik zu tun haben soll (so der Pressetext), das möge jemand anderer erkennen. Für Komplettisten sei noch erwähnt, daß parallel zum Album eine Vinyl-12" bei Die Stadt mit eklusivem Material erscheint, diesmal unter dem Namen Digital Terrestrial.