Millionen Franzosen haben Amélie, der Heldin in Jean-Pierre Jeunets neuem Film, an der Kinokasse ihre Liebe ausgesprochen. Aber über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten - schon gar nicht mit Franzosen.
Schon als Kind war Amélie irgendwie seltsam - oder zumindest deutlich anders als die meisten Kinder. Nun, mit Anfang 20, lebt sie eher zurückgezogen in ihrem kleinen Pariser Appartement, einer plüschigen Wohlfühllaube, und hält sich die Welt draußen lieber vom Leib. Sie hat nichts am Hut mit Lärm, Geschwindigkeit und Modernismus. Sie liebt die kleinen Dinge des Lebens, die "zarten Gesten", die "leisen Töne". Glücklich ist sie allerdings nicht. Etwas fehlt in ihrem Leben, aber was?
Eines Tages entdeckt Amélie (Audrey Tautou) hinter einer losen Kachel im Bad einen Hohlraum und darin eine Dose mit altem Spielzeug, die ein Junge vor Jahrzehnten dort versteckt haben muß. Sie geht auf die Suche nach dem Besitzer, macht ihn ausfindig und läßt ihm die Dose schließlich unerkannt zukommen, worauf dieser in Tränen ausbricht. Das ist es, denkt sich Amélie. Fortan macht sie sich zum Lebensinhalt, die Menschen in etwas mehr Glückseligkeit hineinzumanipulieren.
Amélie fälscht Briefe, verkuppelt gekonnt vereinsamte Seelen, straft aber auch böse Menschen mit Psychoterror. Als sie aber den Mann ihrer Träume trifft (Nino, gespielt vom erfolgreichen Regisseur und Schauspieler Mathieu Kassovitz), tritt allerdings ihre Unfähigkeit zutage, sich selbst Glück zu verschaffen. Immer wieder läuft sie an ihm vorbei, und ihre Annäherungsversuche bleiben so entfernt und vorsichtig, daß man kaum glauben möchte, sie könnten jemals fruchten...
Man kennt Jean-Pierre Jeunets Vorliebe für schräge, schrullige, verkorkste Charaktere aus allen seinen Filmen. Hier, in seiner Heimatstadt Paris, ist er sehr merklich in seinem Element. Die erzählte Geschichte ist vielfältig und -schichtig, vorsichtig und gekonnt inszenziert und hat einen charmanten Bogen, der sich am Schluß wie selbstverständlich zu einem Kreis zusammenfügt. Seine Charaktere sind urfranzösisch, authentisch und abwegig zugleich. Franzosen sind eben komisch.
"Amélie" ist in Frankreich ein gigantischer Erfolg geworden. Vielleicht ist hierzulande ähnliches zu erwarten. Der Autor dieser Zeilen hat aber heftige Vorbehalte. Für ihn ist der Schwachpunkt dieses Films - der fatale Schwachpunkt - die Figur der Amélie. Nicht, daß Audrey Tautou (u. a. "Schöne Venus") die Vorstellungen von Jean-Pierre Jeunet nicht verwirklichen könnte, im Gegenteil: sie ist perfekt darin, aber genau das ist das Problem. Amélie ist nämlich nicht die verhärmte, schräge, andersartige, unter der Oberfläche bezaubernd schöne und deshalb so unwiderstehlich liebenswerte Außenseiterin, als die sie wohl gedacht ist, sondern vielmehr ein furchteinflößendes Geek-Girl, das den Eindruck vermittelt, als wäre es in der Grundschulzeit psychologisch zerstört worden, weil es viel zu selten die Seife an sich rangelassen hat. Ja, richtig verstanden: Amélie ist irgendwie grauslich, abstoßend. Und man ahnt, daß sie, wäre sie nur noch ein bisserl extremer und weniger harmlos in ihrer Lebensführung, ein definitiver Fall für die Klapsmühle wäre. So gesehen kann Jeunets Film beim Zuschauer auch gewaltig danebengehen. Aber das ist, wie eingangs erwähnt, Geschmackssache.