Unter ebener Erde und im obersten Stock - auf diesen Niveaus spielt sich das Leben der Protagonistin ab, als sie vom Dorf nach London kommt. Von Strommasten hält sie sich fern, die Liebe zur luftigen Höhe ist ihr geblieben. Aber das ist noch lange nicht alles.
Vine/Rendell-Fans könnten zur Annahme verleitet sein, es handle sich bei "Heuschrecken" um eine Art Horrorroman - nicht unbedingt in der Machart der "Killerameisen" oder von "Arachnophobia" - aber halt in bester Tradition und gut geschrieben. Nun ja: "Heuschrecken" ist zum einen ein sehr, sehr dickes Buch - und zum anderen aus zwei Strängen gewebt, die nicht zwingend zusammenfinden.
Der erste Plot ist faszinierend, wie meist bei Barbara Vine: Clodagh Brown ist ein Teenager-Mädchen, das sich selbst gar nicht als besonders außergewöhnlich empfindet. Allerdings fühlt sie sich als geborene Klaustrophobikerin zu einer exzentrischen Leidenschaft hingezogen. Daß Kids und Teens gerne auf Bäume klettern und eine Liebe zu Baumhäusern hegen, ist nicht weiter aufregend, daß jemand aber Hochspannungsmasten besteigt, ist schon ein ganz anderes Kaliber. Und diese Geschichte geht böse und tragisch aus. Als Clodagh eines Tages über die bislang respektierte Obergrenze hinauswill, ist es ihr Freund Daniel, der voranklettert. Ohne sich über die Lebensgefahr im klaren zu sein, richtet er sich ganz oben auf. Der tödliche Stromschlag erfolgt auf der Stelle, und Clodagh erlebt traumatische Minuten, als sie den leblosen Körper zu halten versucht, was ihr schließlich nicht mehr gelingt. Die junge Frau wird von ihrem sozialen Umfeld als Anstifterin und Mörderin gebrandmarkt und braucht lange, bis sie sich aus ihrem depressiven, katatonischen Schockzustand erholt. Die "Heuschrecken", wie Daniel die Masten genannt hat, sind nun für sie tabu. Clodagh geht aus ihrem dörflichen Ambiente weg, nach London, um dort an einer Fachuni Wirtschaft zu studieren. Bei ungeliebten Verwandten, die ihr auch nicht gerade Sympathie entgegenbringen, muß sie in einer Wohnung im Souterrain hausen und gegen ihre Platzangst ankämpfen.
Dann verändert sich das Leben, als sie einen außergewöhnlichen jungen Mann aus dem Nebenhaus kennenlernt. Der weißblonde "Silver" schart eine seltsame Mischung aus Freunden und Freundinnen um sich, die in seiner Wohnung Unterkunft finden. Und ein Teil dieser MitbewohnerInnen betritt die Bleibe im obersten Geschoß grundsätzlich nur über das Dach und durchs Fenster. Clodagh hat zur luftigen Höhe zurückgefunden.
Das bizarre Szenario einer WG der 80er entfaltet sich, und auch die poetisch erzählte Liebesgeschichte zwischen Clodagh und Silver, das Schicksal der zugelaufenen Schildpattkatze, sowie die Irrungen und Wirrungen der jungen Leute, die versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen, werden erzählt. All das wäre für einen Roman Stoff in ausreichender Menge. Daß diesem Plot auch noch eine ziemlich weit hergeholte Kindesentführungsgeschichte, in die alle Protagonisten verwickelt sind, einverleibt werden mußte, ist schade. Auch die verzwickte Lebensgeschichte der Verwandten wirkt gewollt dazugepackt. Weniger wäre vielleicht mehr gewesen, auch wenn überzeugte Vine-Leser und -innen den Band höchstwahrscheinlich nicht vor der letzten Seite aus der Hand legen werden. Und die Tatsache, daß Clodagh nach ihrer letalen Erfahrung mit Strom letztendlich eine der gefragtesten Elektrikerinnen von ganz London wird, tröstet irgendwie.