Wenn man klar strukturierte Plots liebt, dazu einen Autor, der einem von Anfang an die Chance gibt, Charaktere mitzubestimmen, und einen Schreibstil, der perfekt in eine Schublade paßt, dann sollte man beim Buchstaben "B" im Buchladen lieber nicht zu den Werken von Alessandro Baricco greifen.
Es gibt zwei Eigenschaften, die für Alessandro Bariccos Bücher charakteristisch sind: sie haben stets etwas mit Reisen oder zumindest Fortbewegung zu tun, und nachdem man sie gelesen hat, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, um ein Märchen reicher zu sein.
Mit "Seide" und "Novecento" hat der italienische Autor schon zwei sehr erfolgreiche Romane veröffentlicht. Inzwischen ist sein in Italien bereits 1991 erschienenes Werk "Castelli di rabbia" ("Burg aus Wut") auch ins Deutsche übersetzt worden und nun als Taschenbuch erschienen, nachdem es in der gebundenen Ausgabe ebenfalls zum Verkaufsschlager avancierte. Die Übersetzung des Titels mit "Land aus Glas" ist durchaus treffend, den so doppeldeutig wie der Name ist auch die Geschichte im 270 Seiten starken Roman.
Es geht um Mr. Rail, den Besitzer einer Glasfabrik, einen Mann mit Visionen und Sinn für Genuß. Es geht um das neunzehnte Jahrhundert und durchaus auch um die Industrialisierung, auch wenn diese scheinbar nicht mit einem Märchen kompatibel ist. Es geht um ein Städtchen namens Quinnipak. Vor allem geht es aber um eine Metapher. Diese Metapher ist eine schnurgerade Eisenbahnlinie, die nach den Vorstellungen von Mr. Rail unendlich lang werden sollte. Die Protagonisten dieser Geschichte sind so skurril, wie der Meister dieser Skizzierung sie nur schaffen konnte.
Das Schöne im Leben ist immer ein Geheimnis, lautet Bariccos Botschaft. Das Schöne dieses Romans sind die Ideen, die er in ihm verarbeitet hat. Wobei "verarbeitet" seiner Leistung nicht gerecht wird - er hat sie vielmehr eingearbeitet: den Jungen Pehnt, der das kleine Städtchen verlassen muß/darf, wenn er in eine Jacke hineingewachsen ist; den Erfinder Pekisch, der ein Instrument spielt, dessen Töne von Menschen gesungen werden; den Architekten Horean, der den Begriff baulicher Funktionalität zur Hölle schickt. Anfangs versucht man als Leser noch eine Ordnung in das Wechselspiel der Handlungen zu bekommen. Man duldet die fast schon penetranten Stilmittel Bariccos, als würde man ein Gedicht lesen, und man ist nur geringfügig über die Dynamik zwischen ruhigen, malerischen Passagen und expliziten Beschreibungen über hemmungslosen Sex als Sprachrohr inniger Liebe erstaunt. Spätestens zur Hälfte des Romans hat Baricco den Leser dann in seinen Kokon eingewickelt, und alle vorherigen Überlegungen werden über Bord geworfen.
Und genauso sollte ein gutes Buch wohl funktionieren.
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