Unwiderstehlich provokant

In "Sade" rekonstruiert Benoit Jacquot jene Phase im Leben des berüchtigten Marquis, die er als Gefangener im Sanatorium Picpus verbrachte: hochinteressante Einblicke in die Geisteshaltung der französischen Revolution, mit ganz wenig Peitschi-Peitschi.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlebte Frankreich eine seiner besten Zeiten. Da herrschte nämlich die französische Revolution, und für den degenerierten Königshof mit all seinen Adeligen hieß es: Rübe ab! Ein aristokratisches Großreinemachen dieser Art hätte wahrscheinlich auch Österreich nicht geschadet. Allerdings muß man sagen, daß wie immer und überall nichts Besseres nachkommt. So waren denn auch die Granden der Jakobiner - Robespierre, Saint-Just, Danton und wie sie alle hießen - besessene Verrückte, die schließlich genauso um einen Kopf kürzer gemacht wurden.

Mitten in diesen geistespolitischen Wirren steckte auch die (bis heute zwiespältige) Figur des Schriftstellers Marquis de Sade, bekannt für seine brutalen Darstellungen sexueller Gewalt, der heute (höchstwahrscheinlich fälschlicherweise) für eine Galionsfigur der S/M-Szene gehalten wird und möglicherweise als Zeitgenosse hochinteressant gewesen wäre. Zumindest erweckt "Sade", der neue Film von Benoit Jacquot, diesen Eindruck.

1794 fristet Sade (großartig: Daniel Auteuil) in einem dreckigen Pariser Gefängnis sein Dasein unter ständiger Bedrohung durch die Guillotine. Wie schon der Monarchie, so ist er auch den Revolutionären überaus suspekt; als bekennender Atheist und Skandalautor ("Justine") muß er eigentlich mit der sicheren Todesstrafe rechnen. Seine Geliebte Marie-Constance (Marianne Denicourt), der er Zeit seines Lebens zugetan war und mit der er einen Sohn hatte, teilt währenddessen das Bett mit dem jungen Fournier (Grégoire Colin), einem persönlichen Freund Robespierres. Auf diesem Weg erreicht sie immer wieder Vergünstigungen für Sade - diesmal ist es seine Verlegung in das Landschloß Picpus, ein Sanatorium für Geisteskranke, das zu einer Art Privilegiertengefängnis für Adelige mit Beziehungen umfunktioniert wurde.

Sade macht das Beste aus seiner Zeit in Picpus. Er arbeitet weiter an seinen Schriften, macht sich an die junge, bezaubernde Emilie (Isild Le Besco) heran, bedenkt seine Mitinsassen mit herausfordernder Eloquenz und bringt sogar frischen Wind in die verzweifelte Lage dieser Ansammlung von Todgeweihten, indem er sie für eine (gezwungenermaßen dialoglose) Aufführung des "Theaters der Lüste" begeistert. Als der Vorhang sozusagen aufgeht, erscheint allerdings ein Tross der Revolutionäre - beladen mit Guillotine-Leichen, die in den Gärten von Picpus verscharrt werden. Fortan herrscht elender Gestank rund um das Sanatorium, und die Hoffnungslosigkeit droht den Insassen den letzten Rest Lebenswillen zu nehmen. Sade verweigert Marie-Constance den Gefallen, zu fliehen. Nachts zieht er sich mit Emilie in eine Scheune zurück, um ihr am praktischen Beispiel klarzumachen, was hinter seinen verwegenen Schriften steckt. Und als am nächsten Morgen die Nachricht verkündet wird, daß Robespierre geköpft und "Le Terreur" beendet wurde, ist sie bereits entjungfert...

Jacquot zeigt Sade als abgebrühten, selbstbewußten, freigeistigen Intellektuellen, Zyniker und Provokateur, dessen Einsichten in die Zusammenhänge zwischenmenschlicher Interaktion ihn längst immun gegen menschliche Schwächen gemacht haben. Unbeirrbar nach seinen Überzeugungen lebend und agierend, behauptet sich Sade gerade bei den Frauen und den Schwachen, obwohl er fast ausschließlich Feinde hat. Hochinteressant ist auch die Darstellung der gewalttätigen, paranoiden Stimmung während der Revolution - und der Zweckgemeinschaften, die sich unter den Todgeweihten formen, um das Überleben leichter oder wenigstens erträglicher zu machen. Ein absolut sehenswerter, historisch bewandter Film, der nichts mit Pasolinis "120 Tage von Sodom" gemein hat.

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Oben: Sade (Daniel Auteuil) und Emilie (Isild Le Besco). Unten: Sade flirtet bei der abendlichen Konversation im Schloß Picpus wieder mit Emilie. Marie-Constance (Marianne Denicourt) gibt sich unterdes für ihn dem eifersüchtigen Fournier hin. Seinen legendären Ebenholz-Dildo hatte Sade auch in Picpus im Einsatz. Seinen Mitgefangenen stand der Sinn allerdings eher nach zweckdienlicher Prostitution.