Der Kapitalismus hält Einzug in die privatisierte British Railroad, und für die Gleisarbeiter hat es sich ausgelacht: "The Navigators", ein weiteres perfektes Stück Gegenwartskino von Ken Loach, dem sozialen Gewissen der britischen Filmszene.
Das Leben der Arbeiter der British Railroad verändert sich im Jahr 1995, als die öffentliche Hand den Schienenverkehr zur Gänze in private Hände gibt, von Grund auf. Plötzlich gibt es neue Direktiven: An jedem Tag muß gestempelt werden, einwandfreies Material wird plötzlich zerstört und auf den Mist geworfen, und nicht zuletzt erhält jeder der Arbeiter einen Brief mit einem Angebot über eine Abfindung. Die Hälfte der Besatzung nimmt dies sogleich an. Die anderen plagen sich noch eine Weile, aber schließlich schafft es die neue, rein marktwirtschaftlich orientierte Führung doch noch, auch den letzten Arbeiter aus dem Arbeitsvertrag hinauszuekeln. Nur der Gewerkschaftsvertreter sitzt am Ende in der leeren Bude, für die es seit Wochen keine Arbeit mehr gibt, und harrt dem Auslaufen seines Arbeitsvertrages.
Für die "freigesetzten" Arbeitskräfte beginnt ein mühsamer Prozeß der beruflichen und ethischen Umorientierung: Eine Agentur besorgt nun die Gleisarbeiten und nimmt auch bereitwillig Arbeitskräfte auf - allerdings nur als freiberuflich Erwerbstätige, die auf Abruf zu jeder Tages- und Nachtzeit bereitzustehen haben. Bezahlten Urlaub gibt es keinen, genausowenig wie Krankengeld oder sonstige Vergünstigungen. Das Schlimmste aber ist die Tatsache, daß sich die Agentur und auch ihre Auftraggeber nicht im geringsten um die alten Sicherheitsvorschriften scheren. Da werden für bestimmte Arbeiten, die eine gesetzliche Mindestzahl von zehn Mann vorschreiben, plötzlich nur noch sechs Arbeiter eingesetzt. Die Sicherheit der Männer ist nicht einmal drittrangig; es geht nur noch um maximalen Profit. Und die Verantwortung wird von einem privaten Geschäftsmann zum nächsten hinuntergeschoben, bis am Ende der Arbeiter selbst und allein für sich verantwortlich ist.
Der Kapitalismus, die freie Marktwirtschaft und der von den zerbröselten sozialen Strukturen alleingelassene Arbeiter: Am Fallbeispiel der British Railroad beschreibt Ken Loach die Charakteristik dieses Prozesses in so unprätensiös realistischer und für sich selbst sprechender Weise, daß man danach jedem, der das Unwort Null-Defizit auch nur in den Mund zu nehmen wagt, glatt vor die Füße speiben möchte. Loach geht gänzlich unmanipulativ, beinahe dokumentarisch zur Sache. Jede einzelne Szene des Film strotzt nur so vor Gehalt und Realitätsnähe. Trotz aller Härte gehen Menschlichkeit, Gefühl und Humor fast bis zum Schluß nicht verloren - aber der kalte Darwinismus der Geldvermehrungsapostel zwingt schließlich doch alle in die kollektive Mitschuld hinein.
Ein Feindbild bleibt trotz des makellosen Realismus und der prinzipiellen Unvoreingenommenheit am Ende doch übrig: der Manager, für den das Personal eine Sachgröße ist, die sich entweder bedingungslos den Schritten zur Gesundschrumpfung unterwirft oder die Kündigung schreiben kann. Sogar für einen Menschen wie den Autor dieser Zeilen, der schon immer nach den Prinzipien der "New Economy"-Neokapitalisten-Scheiße gelebt hat, niemals irgendwo angestellt war und über die dem Tod geweihte Idee einer vom Staat bezahlten Altersfürsorge schon seit Teenagertagen nur müde lachen kann, löst die Figur des neuen Managers der Gleisarbeiter Gewaltphantasien aus, die man im Fernsehen sogar nach Mitternacht nur grob beschnitten ausstrahlen könnte.
"The Navigators" ist jedenfalls ein großartiger Film, der eine Menge über den Zustand der Welt aussagt. Von Filmen dieser Art gibt es kaum eine Handvoll pro Jahr.
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