Ein Mädchen in rotem Mantel rennt durch die Kanalisationsschächte Tokyos - hinter ihr aus dem Dunkeln Geräusche, die immer lauter werden. Das Mädchen rennt schneller, erreicht fast schon das Ende des Tunnels. Da taucht eine schwarze Gestalt mit rotglühenden Augen vor ihr auf.
So sieht die japanische Variante der Begegnung von Rotkäppchen und dem bösen Wolf aus. Doch hier ist das kleine Mädchen im roten Mäntelchen nicht naiv und unschuldig. Es ist vielmehr Mitglied der Terrorgruppe "Sekte" und wird sich gleich selbst in die Luft sprengen. Bei dem "Wolf" handelt es sich um den Polizeioffizier Fuse, der durch diesen Vorfall in eine Sinnkrise geraten wird.
Böses Rotkäppchen und guter Wolf also. Oder vielleicht doch nicht? In "Jin-Roh" ist nichts so, wie es anfangs scheint. Jede der beteiligten Personen spielt ein - mindestens - doppeltes Spiel, um die Ziele ihrer Interessengruppe durchzusetzen. Von denen gibt es mehr als genug: Über zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - den in diesem Szenario übrigens Nazideutschland gewonnen hat - herrscht in Tokio Kriegszustand zwischen der "Sekte" und einer speziell zur Terrorbekämpfung ausgebildeten Hauptstadtpolizei. Die wiederum liefert sich Machtkämpfe mit der regulären Polizei und wird von der Regierung zunehmend als Bedrohung betrachtet. Und dann gibt es noch Gerüchte über eine geheime Sondereinheit innerhalb der Hauptstadtpolizei: die Jin-Roh, auch bekannt als Wolfsmenschen.
Zu einer Schlüsselfigur in dieser Konstellation wird der Polizist Kazuki Fuse. Der war bisher überzeugtes Mitglied der Hauptstadtpolizei. Doch seit seiner Begegnung mit der jungen Terroristin plagen ihn Alpträume und Zweifel an seiner Arbeit. Schließlich sucht er das Grab des Mädchens auf. Dort begegnet er deren Schwester Kei. Sie schenkt ihm ein Buch, eine düstere Kannibalismus-Version der Rotkäppchengeschichte. Bald treffen sich Fuse und Kei regelmäßig, eine Romanze bahnt sich an.
Im Hintergrund aber ziehen verschiedene Parteien ihre Fäden, und Fuse träumt immer häufiger von blutrünstigen Wölfen, die ein Mädchen in rotem Umhang zerfleischen. Wer nun tatsächlich der böse Wolf der Geschichte ist und wer ihm zum Opfer fällt, stellt sich erst zum Schluß heraus. Bis dahin fließt jede Menge Blut, und der Zuschauer wird mit verschiedenen Plot-Twists sowie einer gehörigen Portion Pathos konfrontiert.
Das Drehbuch zu "Jin-Roh" schrieb Mamoru Oshii, Regisseur des SF-Anime "Ghost in the Shell", das aufgrund seiner spektakulären Computergrafiken zu einem internationalen Erfolg wurde. Als größtenteils handgezeichneter Film kann "Jin-Roh" nicht mit derart durchgestylten Bildern dienen und wirkt somit vergleichsweise altmodisch. Das wiederum paßt allerdings zum Schauplatz des Geschehens, dem Tokio der 60er.
Insgesamt hinterläßt "Jin-Roh" gemischte Gefühle. Die Verlegung der Rotkäppchen-Geschichte in ein von skrupellosen Machtkämpfen beherrschtes fiktives Japan ist gut gelungen. Sehr angenehm ist auch, daß Gut-Böse-Klischees hier völlig fehlen. Durch die Vielzahl an Komplotten und Gegenkomplotten, die im Laufe des Films geschmiedet werden, wirkt die Handlung aber etwas unübersichtlich und überladen. Und vor allem gegen Ende hin schwelgt "Jin-Roh" arg in Rührseligkeit.
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