Endlich. Spätestens seit dem umjubelten Auftritt bei der Wiener Labels-Night (siehe EVOLVER-Interview war die neue Notwist-CD für viele ein ersehntes Objekt der musikalischen Begierde. Selten war Warten so zehrend, war Vorfreude so aufreibend und Erwartungen derart hoch. Nun ist es vollbracht. Roter Hintergrund, schwarzer Kreis, schwarze Schrift: The Notwist. Neon Golden. Hinhaltetaktiken hin, Erwartungshaltungen her, selten hatte Warten ein lohnenderes Ende. Oder aphoristisch ausgedrückt: Was lange währt, wird schließlich gut. Nein, besser.
Beinahe vier Jahre nach "Shrink", dem letzten Meisterwerk der Herren Markus und Micha Acher, Martin Messerschmid und Martin Gretschmann, nach endlosen 15 Monaten des Aufnahme- und Produktionsprozesses, des Songwritings, Soundforschens, der Tüftelei, Ideenfindung und -verwerfung ist mit "Neon Golden" nun also zu guter Letzt doch noch das sechste Album des Mutterschiffs des musikalischen Mikrokosmos’ rund um das oberbayrische Städtchen Weilheim erschienen. Im Sinn verweilen all die kleinen Brüder und Schwestern in Notwist, die Projekte und Beteiligungen, die Heimstätten überschüssiger Kreativität und Experimentierfreude, die Live-Bestandsaufnahmen von Tied & Tickled Trio und Console des vergangenen Jahres, tief im Herzen ruht aber vor allem der fabelhafte, der tiefsinnige Electro-Pop von Lali Punas "Scary World Theory" - Erstaunen und Frohlocken drei Alben hoch.
All diese unterschiedlichen Produktionsweisen und Ansätze sind auch bei "Neon Golden" wahrnehm- und spürbar, schwingen mit, fügen der Idee Notwist ihre losen Enden hinzu, ohne dabei aber eindeutig hörbar zu sein oder hervorzustechen, denn, und das ist das wirklich Erstaunliche, "Neon Golden" trägt die gesamte Spieldauer immer und unverwechselbar diese Notwist-eigene Stimmung, die nie weg schien und doch so lange schmerzlichst vermißt wurde, weil sie einem so einzigartig und vertraut entgegenkommt. Ob das Transportmittel dieser Atmosphäre nun die bandeigene Herangehensweise an Harmonien und Interpretation des Songformats oder einfach die bittersüße Melancholie im Gesang Markus Achers ist, der sich wie eine samtene Klammer um die zehn Stücke legt, soll und muss hier nicht eindeutig eruiert oder begriffen werden. "One step inside doesn’t mean you understand, one step inside doesn’t mean I’m yours."
Nochmal hören und nochmal muß man "Neon Golden", diesen prächtigen, übermütigen, unverschämten Wunderbaum an Ideen und Einfällen. Wie der immer noch wächst und gedeiht und in all seinen Farben blüht! Wie abgeklärt und raffiniert sich hier all die vermeintlichen Gegensätze zwischen warmen, organischen Klängen und kalten Elektronikgerüsten (was auch der Albumtitel signalisieren soll), zwischen Moderne und (Jazz-)Tradition ganz von selbst erledigen. Wie hier Songs derart reduziert und versöhnlich in sich selbst ruhen und sich entfalten können, wie schlau und austariert hier die selbst auferlegten Grenzen dessen, was Indie-Rock genannt wird, gesprengt und geöffnet werden, das hat der Autor dieser Lobeshymne in dieser Klasse noch nie vernommen. "Not a sentence to describe this desperate state. Not a picture to compare."
Mit soviel Stil und Geschmack laufen unzählige Details und Bausteine rund um die Fixpunkte Rock, Elektronik und Jazz zu diesem einen, homogenen Ganzen zusammen, ohne sich dabei zu verlaufen. Nochmal wird ausdifferenziert und ausgebaut, aber auch näher zusammengeführt, was bei "Shrink" bisweilen noch nebeneinander stand. Exemplarisch hierfür das Titelstück: ein repetitives, spartanisch-karges Bluesriff durchschreitet die wärmende Brass-Sektion der Tied & Tickled-Trio-Kollegen Ulrich Wangenheim und Johannes Enders, die Tablas variieren den Rhythmus, bevor sich alles in einem elektronischen Geflecht auflöst. Friktionslos, weil bei The Notwist das Arrangement der König ist. "Solitaire" kombiniert großes Streicher-Theater mit ruppigen Beats, "This Room" hofiert Mutter Dub mit verfremdeten Stimmfetzen und dem klaustrophobischsten Text der Notwist-Geschichte ("No matter what we say, no matter what we think, we will never, will never leave this room"), "One With The Freaks" indierockt like it’s 1988, und das großartige "Pilot" ist mit all seinen kleinen Tanzteufelchen und seiner hymnischen Ausgelassenheit schlicht der beste Song, den The Notwist jemals veröffentlicht haben. 10 Stücke, 10 Pretiosen, 10 Songs für die Ewigkeit. "Neon golden like all the lights. Don‘t leave me here for I glow."
"Neon Golden" ist die Verknüpfung von Gitarrenmusik und Elektronik in ihrer schieren Vollendung, ist "the shape of pop to come", ist querdenkendes Manifest der Innovation. Daran wird sich die gesamte Konkurrenz messen müssen. Man kann diese Platte gar nicht genug loben oder empfehlen, es ist sinnlos, nach Vergleichen zu suchen, sie steht für sich und weit über allem, was derzeit so produziert wird. Der sechste Punkt auf der fünfteiligen Benotungsskala sozusagen. Die Platte des Monats, nein, was soll’s, "Neon Golden" ist, bei aller selbstauferlegter Bescheidenheit, die Platte des Jahres, auch wenn erst Mitte Jänner ist, denn was oder wer soll das übertreffen? "You‘re the colour, you‘re the movement and the spin. Could it stay with me the whole day long (…) Leave me paralyzed, love. Leave me hypnotized, love."