Liebeserklärung an die Literatur

China in den 70er Jahren. Intellektuelle werden gnadenlos vom Regime des Mao Zedong verfolgt und deren Kinder in gottverlassene Bergdörfer zur Umerziehung verbannt. Zwei junge Chinesen, die "umerzogen" werden sollen, geraten durch Zufall an einen Koffer mit westlicher Literatur, die ihnen nicht nur das harte Leben in der Umerziehung erleichtert, sondern auch hilft, die Zuneigung einer kleinen Schneiderin zu gewinnen.

Die amüsante Liebesgeschichte des in Frankreich lebenden Chinesen Dai Sijie erobert in diesem Herbst die Herzen der Leser. "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin", Sijies Debütroman, basiert auf einer autobiographischen Erfahrung: Der Autor war selbst von 1971 bis 1974 in einem entlegenen Bergdorf zur Umerziehung. Was das bedeutet, wird im Roman beschrieben - Kontrolle durch den Laoban, den Dorfältesten, eine Vielzahl an Verboten, schwere körperliche Arbeit auf Reisfeldern oder in einem ungesicherten Bergwerk und kaum Hoffnung auf eine Rückkehr ins frühere, intellektuelle Leben und zur Familie.

Sijies Geschichte ist jedoch keineswegs eine verbitterte Abrechnung mit dem Schrecken der Kulturrevolution Maos. Seine beiden Romanhelden finden einen "Rettungsanker" in dieser Zeit der Angst und Not - es sind die in Maos China verbotenen Bücher westlicher Autoren - und der Leser wird Zeuge einer wunderbaren, außergewöhnlichen Liebeserklärung an die Literatur. Der Erzähler und sein Freund Luo gelangen nämlich durch Zufall und ein wenig List an den Koffer eines Freundes, der in einem Nachbardorf umerzogen wird. Die in diesem Koffer versteckten Werke von Balzac, Flaubert, Dumas und anderen Autoren bedeuten für die jungen Männer nicht nur Abwechslung und Trost in ihrem eintönigen und beschwerlichen Leben.

Die Literatur lässt sie nicht resignieren, gibt ihnen Kraft und belebt ihre Phantasie. So entkommen die Studenten mit schauspielerischem Talent, Mut und auch mit Hilfe titelgebenden kleinen Schneiderin so manch brenzlicher Situation. Köstlich zum Beispiel die Episode, in der die beiden einen alten Mann in den Bergen täuschen, indem sie - als Schergen des Mao-Regimes verkleidet - in dessen schmutzige Hütte kommen und ihm bei viel Alkohol traditionelle und vor allem schlüpfrige Volkslieder entlocken. Nicht minder unterhaltsam ist die Episode, als der Laoban ausgerechnet von Luo, dessen Vater als Maos Zahnarzt in Ungnade gefallen ist, verlangt, seine verfaulten Zähne zu behandeln. Was dieser dann auch tut - mit Hilfe einer alten Nähmaschine!

Vor allem aber eröffnet die Literatur den beiden jungen Männer eine Welt, in der einerseits von Helden und Ehrenmännern zu lesen ist, andererseits von Liebe und Sexualität. Nachdem sie das Herz der kleinen Schneiderin erobert haben, indem sie ihr die verbotenen Bücher heimlich vorlesen oder nacherzählen, entwickelt sich nach und nach eine zärtliche, berührende Liebesgeschichte zwischen Luo und dem Mädchen. Der Erzähler hingegen wird mit den (vorher nicht gekannten) Gefühlen der Eifersucht und Sehnsucht konfrontiert. Gefühle, die jedoch nie seine Freundschaft mit oder Loyalität zu Luo überschatten werden, ihn aber zum Beschützer der kleinen Schneiderin machen. Und so nobel sind schließlich einige der Helden in den geliebten Büchern auch!

Das Thema der (Um-)Erziehung findet in der Geschichte mehrfach seine Weiterführung: Vor dem Hintergrund der Kulturrevolution, die alles Intellektuelle im Namen des Fortschritts verdammt, genießt die kleine Schneiderin durch die Helden intellektuelle Bildung. Die "Erziehung" der jungen Männer wiederum wird um die Facette der Liebe zum anderen Geschlecht erweitert. Und das überraschende Ende des Romans zeigt schließlich, dass die kleine Schneiderin viel für ihr Leben gelernt hat, woran Balzac nicht ganz unschuldig ist...

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Über den Autor:
Dai Sijie wurde 1954 in der Provinz Fujian in China geboren. Von 1971 bis 1974 wurde er im Zuge der kulturellen Umerziehung in ein Bergdorf verschickt. Nach Maos Tod studierte Dai Sijie Kunstgeschichte und emigrierte 1984 nach Paris. Bisher hat sich Dai Sijie als Filmemacher einen Namen gemacht ("Chine ma douleur", 1989). "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" ist sein erster Roman; er hat ihn auf französisch verfaßt.