Der Duft der Frauen

Die Geschichte über den denkwürdigen Sommer eines Knaben, der seine Sexualität und seine jüdische Herkunft kennenlernt, wurde von Marcel Reich-Ranicki heftig kritisiert. Einerseits wegen angeblicher antisemitischer Untertöne, andererseits empörte sich der "Kritikerpapst" über seine Kollegen, die den jüdischen Hintergrund der Novelle nicht bemerkt haben (wollen).

Die Novelle spielt in den frühen 60er Jahren in der Schweiz. Der 12jährige Ich-Erzähler verbringt seine Ferien bei seinem Onkel, der Prälat und Leiter der Stiftsbibliothek von St. Gallen ist. Es ist sein letzter Sommer, bevor er in die Klosterschule von Einsiedeln muss. Der Junge arbeitet in der Bibliothek als "Pantoffelministrant". Seine Aufgabe ist es, den Besuchern Filzpantoffeln über die Straßenschuhe zu ziehen, um den wertvollen Boden der "Bücherarche" zu schonen. Er erledigt diese Aufgabe mit Begeisterung, denn sie gibt ihm Gelegenheit, seine erwachenden sexuellen Gefühle zu befriedigen: Neugierig sieht er unter die raschelnden Unterröcke der weiblichen Besucher, und mit Genuß atmet seine Nase den Duft der Frauen ein.

Dies alles wird mit großer Besorgnis und großem Mißfallen von der Haushälterin des Onkels beobachtet und kritisiert. Und ihr Name ist bezeichnend: Fräulein Stark hat starken Einfluß auf den Monsignore, und streng ist ihr Auftreten dem pubertierenden Knaben gegenüber. Ihre Bemühungen, dessen sinnliche Ausschweifungen zu unterdrücken, beherrschen die Gedanken des Erzählers, und somit auch einen Großteil des Inhalts der Novelle.

Was in Österreich über Hürlimanns Werk wenig bekannt ist: bevor das Buch veröffentlicht wurde und die Bestsellerlisten eroberte, entbrannte in der Schweiz eine heftige Kontroverse darüber, ob der Autor authentisch über seine eigene Vergangenheit geschrieben hat. Denn Hürlimanns Onkel Johannes Duft war Stiftbibliothekar in St. Gallen und hatte eine Haushälterin namens Stark. Die katholische Kirche sah den guten Ruf des weltberühmten Stiftes in Gefahr.

In Hürlimanns Geschichte ist Prälat Jacobus Katz ein wortverliebter Mann, und sein Lebensmotto ist bezeichnend: "Nomina ante res" - die Wörter zuerst. Pompöse Auftritte liebt er ebenso wie sein Stammlokal, in dem er sich ab und zu betrinkt. Er ist pathetisch, redet viel, ohne etwas zu sagen, und ist in seinem Gehabe peinlich übertrieben, was den Leser manchmal schmunzeln lässt, die Figur als solches aber doch eher unsympathisch macht.

Die gute, wenn auch strenge Seele des klösterlichen Haushaltes ist Magdalena Stark, Appenzellerin aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Sie kümmert sich um das leibliche Wohl des Monsignore, bringt ihn nach jeder Sauftour wohlbehalten ins Bett und sorgt sich um die Erziehung des jungen Neffen, dessen Unschuld sie in Gefahr sieht, da er - wie sie es ausdrückt - gegen "das Sechste" (unkeusche Blicke) verstößt. Viermal wird sie den weltfremden Prälaten auf das unmoralische Verhalten des Neffen aufmerksam machen und immer wird der Junge "straffrei" ausgehen, denn für den Onkel ist das alles nur "Nunu-Zeug" ohne Bedeutung.

Dem interessierten Leser ist wahrscheinlich Marcel Reich-Ranickis Kritik über das Buch im „Literarischen Quartett“ bekannt: antisemitisch soll der Roman sein, und besonders erzürnt war der „Literaturpapst“ darüber, daß seine Kritikerkollegen die Hinweise auf das Judentum in ihren Beurteilungen völlig außer Acht gelassen oder gar übesehen hatten. Nun, auf den ersten Blick ist der jüdische Hintergrund der Novelle nicht so schnell erkennbar: Das Wort „Jude“ wird nur zweimal genannt, davon einmal als "g´stampfter Jud", was - wie man dem Jungen im Stammlokal des Onkels erklärt - ein Brotaufstrich ist, eine Art Wurstpastete.

Im übrigen bedient sich der Autor für das Jüdische einer Umschreibung mit dem Namen „Katz“. Denn der junge Erzähler und auch sein Onkel sind geborene Katz, oder - wie oft wiederholt wird - aus dem "Katzengeschlecht". Und diese Herkunft verleugnen (im Falle des Onkels) bzw. bekämpfen (im Falle des Knaben) die beiden.

Hürlimanns Novelle kann sicher nicht einfach als antisemitisch abgetan werden. Vielmehr erscheint mir die Schwäche darin zu liegen, daß zwei Gegensätze klischeehaft verarbeitet werden: Der Autor stellt die katholische, vernünftige Welt des Onkels der jüdischen, sinnlichen (nämlich unter Damenröcken schnüffelnde) Welt des Neffen gegenüber. Auf der einen Seite der vermeintlich katholische Prälat, der sich in Worthülsen verliert und die Vernunft als oberstes Gebot predigt. Auf der anderen Seite ein pubertierender Junge, der (wie immer wiederholt wird) das "katzenhafte" und "katzenartige", sprich jüdische, in sich selbst verzweifelt bekämpfen will. Und hier zeigt sich der Katzenjammer des Romans: was soll an einem heranwachsenden Jungen, der mit erwachenden sexuellen Gefühlen konfrontiert ist, so typisch jüdisch sein, wenn er unter die Röcke von Frauen späht, wenn er die Nähe eines gleichaltrigen Mädchens sucht oder in der Nacht heimlich onaniert ?!

Das fromme und prinzipientreue Fräulein Stark erkennt die Anzeichen des erotischen Erwachens des Jungen, erklärt sie aber mit seiner Herkunft, die er unterdrücken muß, um sündenfrei zu werden. Das geht so weit, daß sich der Junge als gespaltene - nämlich in eine vernünftige, den Onkel kopierende und in eine "angeborene", unbeherrschte - Persönlichkeit sieht.

Gut gelungen sind die in die Schilderung des letzten Sommers des Knaben eingewobenen Rückblicke in die Vergangenheit des "Katzengeschlechtes", die auch das Thema der Verleugnung des eigenen Judentums verarbeiten. Sie beschreiben die Geschichte des Großvaters des Erzählers (und Vater des Prälaten), der nach dem Tod der Eltern seine Geschwister versorgt, später ein erfolgreiches Unternehmen aufbaut, durch den Krieg alles verliert und als Bademeister ein neues Leben beginnt. Diese Rückblenden erklären auch die Gründe, warum der Prälat seine Herkunft, von der ohnehin jeder im Kloster weiß, verleugnet. Die Verbindung zwischen der Familie Katz und dem Fräulein Stark wird ebenso beschrieben wie Erinnerungen des Erzählers an frühere Jahre, in denen sich eben jenes Fräulein Stark sehr mütterlich um ihn gekümmert hat.

"Fräulein Stark" ist zweifellos ein starkes Stück Literatur, was vor allem auf die Prosa des Autors zurückzuführen ist. Schön erzählt, mit vielen Wortspielen, macht sie das Buch zu einer lesenswerten Lektüre und läßt auch über so manche Klischees hinwegsehen.

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Über den Autor:
Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug/Schweiz geboren. Nach dem Besuch der Klosterschule in Einsiedeln studierte er Philosophie in Zürich und Berlin. Zwischen 1978 und 1980 arbeitete er als Regieassistent und Dramaturg am Berliner Schiller-Theater. Thomas Hürlimann lebt als Schriftsteller und Dramatiker in der Innerschweiz und in Leipzig, wo er am Deutschen Literaturinstitut lehrt. Für sein Schaffen, das Prosa (zuletzt: "Der große Kater", 1998) und Theaterstücke (zuletzt: "Das Einsiedler Welttheater", 2000) umfaßt, wurde Thomas Hürlimann mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Seine Novelle "Das Gartenhaus" wurde in 13 Sprachen, sein erster Erzählband "Die Tessinerin" in sechs Sprachen übersetzt. "Das Gartenhaus" wird von Jo Baier verfilmt.