Wie schon Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" nicht ohne Folgen blieb, versetzt auch das Auftauchen der jungen, kapriziösen Witwe Freyja ein isländisches Fischerstädtchen in Aufruhr. Am Ende der Geschichte gibt es mindestens einen Ermordeten…
Die 12jährige Agga ist nicht erfreut, als eines Tages ohne Vorankündigung ihre Tante Freyja "aus Ämärrika" vor der Tür steht. Denn das bedeutet, daß nun noch weniger Platz im kleinen Haus im Fischerstädtchen an der Küste Islands ist. Die elternlose Agga lebt dort mit ihren Tanten Dódó und Ninna, ihrer Großmutter und deren Schwägerin Kidda. Der Großvater, ein Seemann, ist nur selten zu Hause.
Freyja, Mitte 20 und junge Witwe, ist "eine Offenbarung" für die weiblichen Familienmitglieder: Mit der Figur einer Coca-Cola-Flasche, rotbemalten Lippen, Haaren bis zur Hüfte und eisblauen Augen bringt sie nicht nur Aufregung in die Familie, sondern in den ganzen Ort. Ihrer Faszination können sich die Männer nicht entziehen, allen voran Polizist Magnus und Björn Theodór, Sohn aus sehr reichem Haus.
Einzig Agga mag die schöne und selbstbewußte Tante, die so viel Kälte ausstrahlt, nicht. Und als der trinkende und gewalttätige Ehemann von Freyjas bester Freundin Dísa unter mysteriösen Umständen umkommt, sieht sich Agga in ihren Mutmaßungen bestätigt. Die Tante aus Amerika muß es gewesen sein. Schließlich geht sie jeden Abend stundenlang auf dem Felsenhügel im Ort spazieren und kehrt erst spät zurück.
Agga wird miterleben, wie Freyja sich den begehrtesten Junggesellen des Städtchens angelt, als Unternehmerin Erfolg hat, dadurch ihrer Freundin Dísa und ihrer Kusine Dódó Arbeit verschafft, wie sie sich gegen eine hartnäckige Rivalin und ihre, noch hartnäckigere, Schwiegermutter durchsetzt ebenso wie gegen kleinliche Vorurteile und dummes Gerede. Und sie ist bei der Wahl ihrer Mittel nicht gerade zimperlich. Ob Freyja nun aber eine Mörderin ist oder nicht, ob überhaupt ein Mord oder zwei oder drei) geschehen sind, wie Agga vermutet... wen interessiert das im Hinblick auf die ungewöhnliche "Karriere" dieser Frau noch?
Der Leser erlebt die Geschehnisse des Romans, die sich über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren erstrecken, aus Sicht der vorwitzigen, neugierigen Erzählerin, die sich immer dort aufhält, wo etwas passiert. Und wenn Agga nicht dabei ist, wird sie es trotzdem erfahren, denn sie spioniert geschickt hinter ihrer Tante Freyja und anderen "wichtigen" Personen her oder entlockt ihnen Informationen, die sie unverblümt weitererzählt. Ihre Unverfrorenheit macht sie sogar zur Ehestifterin zwischen Freyja und Björn, mit ihrer Respektlosigkeit und den naiv-trockenen Fragen provoziert sie Erwachsene und kommentiert schlau und lapidar deren Verhalten. Ihre Frechheiten und Intrigen machen sie nicht zu einer vollkommen sympathischen Figur, zeigen aber hervorragend die schwankenden, starken Empfindungen und die Launenhaftigkeit eines Mädchens, das zur jungen Frau reift.
Kristín Marja Baldursdóttirs Debütroman, an dem die Autorin acht Jahre (!) arbeitete, ist kurzweilige und spannende Unterhaltung vom Feinsten. Die Ereignisse rund um die faszinierende und mysteriöse Freyja entwickeln sich vor dem Hintergrund der sozialen Unruhen Islands und sind gespickt mit interessanten Schilderungen über das isländische Leben in den 50er Jahren. Empfindliche Preiserhöhungen, Lebensmittelknappheit, Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholismus beherrschen das Leben und die Gespräche der Bewohner des Fischerstädtchens in großem Maße.
Und auch der Charakter der Insel im äußersten Norden Europas, deren wild-herbe Landschaft geprägt wird von Lava, stürmischer See und Felsen, die wie Trolle aus den isländischen Sagas aussehen, wird eingefangen und spiegelt die zahlreichen Frauenfiguren des Romans wieder: widerspenstig, aufbrausend und aufbäumend, kraftvoll und unerbittlich. Niedertracht, Ränke und Neid zwischen den Frauen zeigen sich genauso stark wie gegenseitige Hilfe und Zusammenhalt in Notzeiten.
Bei diesem dominanten "Weibsvolk" haben Männer nicht viel zu reden: Der griesgrämige Großvater, der ständig über die soziale Lage wettert und auf den Tisch haut, gibt immer wieder dem Willen seiner Frau nach. Meist befindet er sich ohnehin auf See, wo er von der Weiberwirtschaft verschont bleibt. Freyjas Mann Björn, der Polizist Magnus und andere Männer, die die schöne Tante bewundern und verehren, lassen sich von der Angebeten an den Nasen herumführen. Die meisten der anderen männlichen Figuren des Romans sind arbeitslose Trinker oder unter dem Kuratel ihrer Frauen stehende Ehemänner. Und so manch einer muß sogar sein Leben lassen. Am Schluß werden nicht nur die Möwen und Agga über die Dummheit der Männer lachen...