F 1998
Genre:
Thriller
Autorin:
Amélie Nothomb
Verlag:
Diogenes
(Zürich 2001)
in dt. Sprache
166 Seiten
Wertung:
Weblinks:
Amélie Nothomb bei Diogenes
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Unglaubwürdige Details machen Amélie Nothombs letzten Roman "Quecksilber" zu einem mäßig spannenden Thriller, der vor allem von der obsessiven Liebe eines alten Kapitäns handelt.
Es ist das Jahr 1923. Die 23jährige Hazel lebt seit fünf Jahren im Haus des 77jährigen Kapitäns Omer Loncours auf einer kleinen Insel namens Mortes-Frontières. Der Alte, wie Hazel ihn nennt, hat sie 1918 nach einem Fliegerangriff, bei dem ihre Familie ums Leben gekommen ist, bei sich "wie eine Tochter" aufgenommen. Was wie eine großzügige und herzensgute Tat aussieht, hat jedoch einen etwas grausigen Hintergrund: Hazel, deren Gesicht entstellt ist, wird von ihrem "Retter" mißbraucht. Sie verläßt das Haus nie, lebt mehr oder weniger eingesperrt in ihrem Zimmer ohne Gesellschaft und traut sich nicht in die Öffentlichkeit, weil ihr der Alte davor Angst gemacht hat. Im ganzen Haus gibt es keinen Spiegel, keine Töpfe, Fensterscheiben oder Gläser, in denen Hazel ihr Gesicht sehen könnte. Sogar ihrem Badewasser wird eine trübe Substanz zugesetzt, damit es nichts reflektiert.
Die Ereignisse geraten in Bewegung, als Omer Loncours eine Krankenschwester - die 30jährige, attraktive Françoise - auf die Insel bittet, um die erkrankte Hazel zu pflegen. Françoise, eine Frau von äußerst kühlem Naturell, spürt sofort, daß der Kapitän ein Geheimnis verbirgt und daß es eine besondere Verbindung zwischen ihm und Hazel geben muß.
Hazel ist überglücklich, Gesellschaft zu bekommen, und bittet Françoise, sie nicht gesund zu pflegen, damit sie ihr weiterhin Besuche abstatten kann. Obwohl ihr der Kapitän verboten hat, persönliche Fragen zu stellen, gelingt es Françoise sehr geschickt, einige Details des Verhältnisses zwischen dem Alten und dem Mädchen zu erfahren. Ebenso findet sie bei Nachforschungen heraus, daß schon einmal vor vielen Jahren eine junge Frau auf der Insel gelebt hat, die nach zehn Jahren Selbstmord beging. Fortan richten sich Françoises Bemühungen weniger auf Hazels Genesung, die ohnehin nicht wirklich krank ist, als darauf, das Mädchen zu retten. Dabei wird sie selbst zur Gefangenen des "Alten".
Im Klappentext als psychologischer Thriller bezeichnet, muß man bereits nach wenigen Seiten feststellen, daß dem Roman leider die zum Thema der egoistischen, grausamen Liebe und emotionalen Abhängigkeit passende Atmosphäre völlig fehlt. In langen Dialogen der drei Hauptfiguren legen die einzelnen Personen immer wieder ihre Motive und Standpunkte dar. So sieht sich der Kapitän einerseits als Mann, der unendlich liebt, wie es kaum ein Mensch vermag. Andererseits bezeichnet er die Liebe als eine "Krankheit, die böse macht", wodurch er sein Handeln rechtfertigen will. Hazels Gefühle für "den Alten" schwanken zwischen Dankbarkeit und Ekel. Françoise betrachtet das Vorgehen des Kapitäns als verabscheuenswürdig und versteht Hazels Trägheit und Lethargie nicht. Die Dialoge, in der ersten Hälfte des Buches noch fesselnd, werden mit fortschreitender Lektüre langatmiger und langweiliger. Für das Ende des Romans bietet die Autorin zwei verschiedene Versionen, wobei beide nicht gerade gelungen sind. Sie erinnern an eine Farce oder ein Märchen, das einfach und naiv erzählt wird. Eigentlich fehlt nur der Schlußsatz "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann..."
An vielen Stellen läßt das Buch Spannung vermissen. Oft scheint es, als würde jede der Figuren ohnehin wissen, was im nächsten Moment passiert, und dementsprechend recht gleichgültig darauf reagieren. Vor allem die Krankenschwester ist von einer kühlen Gelassenheit. Unglaubwürdig ist dabei jedoch, daß eine junge Frau, die gerade eingesperrt wird und keinerlei Fluchtmöglichkeiten sieht, sich in ihrem Gefängnis ohne jegliche Gefühlsregung zum Schlafen hinlegt und in Gesprächen mit ihrem Antagonisten sarkastisch bleibt. Oder daß ein 23jähriges Mädchen nach fünf Jahren seelischen und körperlichen Mißbrauchs ihrem Peiniger nur übel nimmt, daß er vor ihr bereits eine andere Frau so sehr geliebt hat. Und diese Beispiele sind nur einige von vielen unglaubwürdigen Details! Sogar die einzig wirkliche überraschende Enthüllung in der Geschichte entkommt dieser Kritik nicht.
Vielleicht war das Buch doch als Märchen konzipiert. Es fehlen schließlich weder an Bösewicht und Opfer (wenn auch die Figur der Hazel interessanterweise zweideutig dargestellt wird) noch an den üblichen moralischen Untertönen: wie gut wahre Freundschaft ist, wie grausam obsessive Liebe und falsche Selbstgerechtigkeit sein oder machen kann und ob äußere Schönheit nun Glück oder Unglück ist.
Der Titel des Buches bezieht sich - unter anderem - auf das Quecksilber (zerbrochener Fieberthermometer), das Françoise in einer Schüssel sammelt, um daraus eine spiegelähnliche Fläche zu machen, in der sich Hazel betrachten könnte. Warum Françoise das möchte, hat mit dem dunklen Geheimnis des Kapitäns zu tun, und soll hier nicht verraten werden.
Eine zugegebenermaßen schnell zu lesende Geschichte; dennoch hat man sie bald vergessen.
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