Die Idee, Klassiker der männlichen Rock- und Popmusik aus femininer Sichtweise neuzuinterpretieren, ist ja nicht schlecht - vor allem, wenn es sich um das eindeutig schräge Weltbild einer Tori Amos handelt. Bei "Strange Little Girls" ist ihr in Sachen Auswahl und Ausführung jedoch einiges danebengegangen.
Myra Ellen Amos wurde am 22. August 1963 in North Carolina geboren. Als Tochter eines Priesters begann sie (so will es jedenfalls die Legende) bereits im Alter von vier Jahren im Kirchenchor zu singen und Klavier zu spielen. Kurz darauf schrieb Tori Amos ihre ersten eigenen Songs und zog, beeindruckt von der Rockmusik der 70er Jahre, nach Los Angeles, um Popstar zu werden. 1987 gelang es ihr, bei Atlantis Records unter Vertrag genommen zu werden, wo dann auch ihr Debütalbum "Y Kant Tori Read", ein ziemlich uninspiriertes Metal-Werk, erschien und - total floppte. Trotz des Mißerfolgs schaffte sie es aber, ihren Plattenvertrag zu verlängern. Drei Jahre später erblickten zuerst eine EP ("Me And A Gun", ihre erste, aber nicht letzte öffentliche Auseinandersetzung mit ihrer Vergewaltigung) und kurz danach "Little Earthquakes" das Licht der Welt.
Innerhalb kürzester Zeit konnte Tori Amos den Platz einnehmen, den der Rückzug von Kate Bush aus der Musikwelt offenließ, und wurde damit zum neuen, gefeierten weiblichen Singer-Songwriter à la Joni Mitchell.
"Crucify", eine weitere EP, war Tori Amos erste Auseinandersetzung mit dem Thema Coverversionen - damals interpretierte sie Nirvana, Led Zeppelin und "Angie", den Klassiker der Rolling Stones. Auf ihrem sechsten Studioalbum "Strange Little Girl", setzt sie dieses Konzept nun fort: es besteht zur Gänze aus Covers recht bekannter Tracks von männlichen Musikerkollegen. In einem Interview sagte sie dazu, daß sie den Liedern ihre männliche Erzählperspektive nehmen und sie auf weibliche Art und Weise interpretieren wollte. Was an einigen der Nummern allerdings so spezifisch männlich sein soll, läßt sich nicht gerade leicht herausfinden, da beispielsweise Depeche Modes "Enjoy the Silence" ein absoluter Unisex-Song ist.
Beim Hören der neuen Platte fällt zunächst einmal auf, daß mit wenigen Ausnahmen sämtliche Tracks auf balladeske Weise uminterpretiert wurden. Interessanterweise wurde allerdings gerade das Titelstück "Strange Little Girl" (The Stranglers), im Original eine ganz ruhige Nummer, zum Rocksong umgewandelt. Die Auswahl der Tracks ist sicherlich auch nicht nach jedermanns Geschmack. "I´m Not In Love" von 10CC z. B. ist eine der unerträglichsten Balladen, die die siebziger Jahre hervorgebracht haben. Und "I Don´t Like Mondays" der Boomtown Rats ist ebenfalls eine Nummer, an der sich viele im Laufe der letzten 20 Jahre längst sattgehört haben. Erfreulicher sind hingegen "Heart of Gold" von Neil Young, das in der Version von Tori Amos um Klassen besser klingt als das Original, oder Lloyd Coles "Rattlesnakes", das jedoch unter der neuen Interpretation ziemlich leidet.
Das Leiden nimmt ja im Werk von Tori Amos seit jeher eine zentrale Position ein. Allerdings sollte sich eine "weibliche Interpretation" von Männersongs nicht allein auf dieses Gefühl beschränken, da diese Haltung auf Dauer doch etwas unemanzipiert wirkt - und das liegt garantiert nicht in Toris Absicht. Im Endeffekt sind die Nummern auf "Strange Little Girls" halt doch "nur" Coverversionen, da nichts Tiefgreifendes an ihnen verändert wurde.
Weitere Titel auf der Platte sind unter anderem "Time" von Tom Waits, "97 Bonnie & Clyde" von Eminem, "Real Men" von Joe Jackson und "Happiness Is A Warm Gun" von den Beatles. Für den echten Amos-Fan ergibt sich zusätzlich noch die Möglichkeit, die CD gleich vier Mal zu kaufen, da das Werk mit so vielen verschiedenen Coverbildern erhältlich ist. Und wer weiß: Nach der anstehenden Tournee gibt es dann sicher noch die Tour-Edition mit Live-CD... Viel Spaß beim Sammeln!