Fortsetzung...
Neu! 2: 1973: Nachdem die vor allem werbetechnisch in den Sand gesetzte Single "Neuschnee/Super" alles andere als ein Erfolg war, geriet die Band zunehmend unter Druck, mußte doch ein neues Album produziert werden. Mitten während der Sessions zur Nachfolge-LP ging wieder einmal das Geld aus. Die Musiker hatten gerade die letzten Takes der A-Seite aufgenommen, als dringend Füllmaterial gefunden werden mußte, um die Leerrillen zwischen den einzelnen Songs zu verkürzen bzw. Tonspuren zu verlängern. Hierfür schnappte sich Dinger einen defekten Taperecorder, mit dem er die Single verwurstete. Ein bißchen übriggebliebenes Bandmaterial hat ja sowieso jeder im Studio herumliegen, und schon war alles konglomeriert und runtergepitcht - und das zweite Album fertig. Die Kritiker schüttelten besorgt die Köpfe ob dieser Experimente, und auch das neugierige Publikum verstand offenbar nicht so recht, was da vor sich ging. Vielleicht fühlten sich einige auch schlicht an der Nase herumgeführt.
Der Erfolg blieb aus - und schon bald floh Michael Rother zu Cluster. Das vor allem live sehr erfolgreiche Improvisationsprojekt der Herren Moebius & Roedelius stellte dann auch den Nährboden für Rothers spätere Band Harmonia dar.
Neu! 75: Für das dritte Album spielte Rother dann doch wieder gemeinsam mit Kumpel Dinger; es entstand ein "Split-Album" - pro Seite ein Interpret. Seite A stellt mit ihren meditativen, fast schon New-Age-angehauchten harmonischen Bögen einen guten Überblick über das Repertoire Rothers dar. Auf Seite B hingegen hören wir ein munteres Quartett (Freunde und Geschwister wurden ins Studio geladen), das dem Punk-Rock frönt (sic!), fast so, als hätte da einer gesagt; "Bitte aufhören mit dem Schmus, let´s rock!" Mit einem derart gespaltenen, inkohärenten Werk war natürlich auch kein Staat zu machen. Was dazu führte, daß Dinger und Rother von nun an getrennte Wege gehen sollten. An nachfolgenden Projekten seien z. B. LA Düsseldorf oder eben Harmonia genannt.
Zur Musik: Neu! klingen heute alt, so alt, als wäre Stereo noch nicht geboren. "Perfekte Aussteuerung" wirkt beim Hören ihrer Platten wie ein Fremdwort, das einer unlernbaren Sprache entliehen wurde. Sie leiden sehr unter den 16tel-Stakkato-Drums, klammern sich in melodischen Bereichen zu oft an die "Ein-Akkord-Maxime", und ihre "Mantra-Intonationen" sind wenig mystisch und zeigen kaum Atmosphäre. Man braucht viel Phantasie - eine Zeitmaschine wäre noch besser -, damit man sich vorstellen kann, daß das damals richtige Avantgarde war.
Und doch hört man sofort, warum Neu! so wichtig sind, obwohl ihre Musik selbst vielleicht gar nicht so gut ist. Sie waren besonders früh dran, ihrer Zeit, die damals ja auch noch etwas langsamer verstrich als heute, ganz weit voraus, spielten Punk-Rock, bevor den Sex Pistols irgendwer erklärt hatte, wie man Gitarren verstimmt, betrieben zehn Jahre vor der Erfindung des "Samplers" manuelles Tape-Looping - und wer hat eigentlich das "Split-Album" erfunden? Neu!
Die schwebenden Passagen des Neu!-Sounds sind teilweise sehr schön und mit großer Virtuosität gespielt. Dort, wo der Sechzehntel-Hagel aufhört und die Gitarren leiser werden, wird Neu! eigentlich erst so interessant, wie man es erwartet. Die lebendige Improvisation macht vieles gut, was aber dennoch immer wieder durchkommt, ist diese eigene hölzerne Spielweise - das klingt ungefähr so wie damals, als unsere Musiklehrer versuchten, mit verbissenem Gesichtsausdruck den schwarzweißen Tasten wenigstens ein paar Takte "Swing" zu entlocken. Und wer Mantras mag, möge bitte ins Archiv greifen und ein paar alte "Popul Vuh"-Schallplatten ausgraben.
Neu! als "most influential" Band: Leider zerstritten sich Rother und Dinger auch untereinander, und so kam es, daß das Label die Exklusivrechte behielt und gleichzeitig begrub. Neu! verschwanden aber keineswegs in der Versenkung, nur ihre Platten waren seit den 70er Jahren ausverkauft und durften nicht nachgepreßt werden. Originalpressungen erzielten in den letzten Jahren - selbst in fragwürdigstem Zustand - sagenhafte Preise.
David Bowie, der in den Siebzigern oft deutsche Lande bereiste, lobte Neu! bei seinem ZDF-Auftritt als "most influential band" und versetzte damit die Düssldorfer Zuseher in Aufregung, weil sie "ihre berühmten Söhne" NICHT kannten. Auch die High-Tech-Götter Autechre zollten Neu! gehörig Tribut, als sie auf der Maxi ("We r are why/WAP72") einen, nein eigentlich zwei Songs von Neu! coverten: "Weißensee" und "im Glück". Immer wieder tauchen Rother/Dinger in den Creditlisten diverser Interpreten auf (z. B.: Blur, Brian Eno, Placebo, Radiohead, Sonic Youth, Stereolab) oder geistern namentlich durch deren Interviews.
Also: Vielen Dank an Herbert Grönemeyer, daß er dem gerichtlichen Streit um Neu!s Erbe ein Ende machen konnte. Die soeben veröffentlichten Neupressungen (auf Grönland Records/Vertrieb: EMI) sind sehr OK und klingen hundertprozentig authentisch - es rauscht und grammelt auch genauso wie damals.
Wer auf der Suche nach dem ultimativen Flashback ist, wird mit den drei Neu!-Alben gut beraten sein; aber auch eine Suche nach "LA Düsseldorf"-Scheiben zahlt sich aus. Wer ein audiophiles Hörerlebnis erwartet, wird allerdings ebenso enttäuscht sein wie jemand, der sich "echte" deutsche elektronische Musik vorstellt (etwa "Autobahn" von Kraftwerk). Damals verstand man eben unter elektronischer Musik den Versuch, echte Instrumente mittels Effekten zu modifizieren...
Die drei wiederaufgelegten Alben sind eine Empfehlung an alle, die sich für prähistorische Elektronik interessieren und/oder schon lange auf einen soliden Rerelease von Neu! warteten - und nicht bereit waren, die völlig sinnlos überzogenen Secondhand-Preise zu bezahlen.