Es ist gar nicht so einfach, einen Reisebericht über Venedig zu schreiben. Denn wie Goethe schon in seiner "Italienischen Reise" meinte... Aber ehrlich: Wer will das wissen? Venedig sieht heute nämlich ganz anders aus als zu Goethes Zeiten - und damit bezieht sich Andreas Winterer in seinem EVOLVER-exklusiven Reisebericht keineswegs nur auf den Überzug aus Taubenscheiße.
Wer in München den Nachtzug um halbzwölf nimmt, der will nach Venedig. Man kann es ihm nicht verdenken, denn die Stadt ist eine Reise wert. Da stellt sich bloß die Frage, ob es heute noch eine Zugreise sein muß... Bestimmt nicht im Schweinekoben für sechs Personen, den die Bahn als Liegewagen anpreist. Und auch der "Schlafwagen 1. Klasse" (ca. 150 Euro pro Person) sieht ganz anders aus, als wir uns das vorstellen - aber vielleicht haben wir ja auch nur zu oft die frühen Bond-Filme und "Mord im Orient-Expreß" gesehen. Obendrein schrumpfen die Abteile: Vor fünf Jahren, bei unserer letzten Venedig-Reise, konnte sich in dem Zweierabteil auch ein breitschultriger Mann noch umdrehen. Heute müssen sich selbst Gertenschlanke mit dem Kopf voran direkt vom Gang aus in ihre First-Class-Pennmulde quetschen.
Der Verfall der Reisekultur ist einer der zwingendsten Gründe, endlich den "Star Trek"-Beamer zu erfinden. Früher gab´s zur Speisekarte (!) ein kleines Fläschchen Rotwein; das zauberte ein Quentchen Charme aufs ausklappbare Waschbeckchen. Diesmal bekamen wir im Zug weder Charme noch Zimmerservice zu Gesicht. Stattdessen werden wir 30 Minuten nach dem Einsteigen wachgerüttelt, um zwei Plastikflaschen Designerwasser in Empfang zu nehmen. Bella Italia! Ich will weder jammern noch lästern, aber ich würde ohne Zögern noch einen Hunderter drauflegen, nur um wieder das 0.33-Fläschchen Industrierotweinverschnitt und die Speisekarte zu bekommen. Doch verlassen wir den zugigen, rhythmisch klappernden, reichlich abgenutzten und leicht verschwitzten Ort und kommen - lang genug hat´s gedauert - nach Venedig.
Literarische Vorbilder & anderes Elend
Ich tippe dies mit Stolz, denn ich stehe in einer langen Tradition. Vor mir meinten schon Bloch, Byron, Hesse, Highsmith, Hoffmann, Hofmannsthal, Kafka, Nietzsche, Poe, Rilke, Rousseau, Schnitzler, Schiller, Trakl, Twain und Voltaire, über Venedig was sagen zu müssen. Und in den letzten Jahren auch Donna Leon. Mangels Daiquiris schlabberte Hemingway im Locando Cipriani seine Bellinis und fand die Stadt so herzlich, leichtfüßig und erfrischend, daß er den heiteren Roman "Über den Fluß und in..." Ach, das wissen Sie doch ohnehin alles. Sie kennen bestimmt auch schon das Rezept für "Kartoffelsalat Hemingway", jaja, das mit den ungeschnittenen Kartoffeln, den vielen weißen Zwiebeln, Salz, Pfeffer und viel Olivenöl. Der macht aus Bengeln Männer. Nicht nur in Venedig.
Tja, da bleibt wohl nicht mehr viel zu sagen. Lassen wir also den Reiseführer zu Wort kommen: "Die Entwicklung der Stadt Venedig ist eng verknüpft mit ihren politischen und kommerziellen Beziehungen mit dem Orient und ..." so weiter. Stimmt: Als wir gleich nach der Ankunft am Bahnhof Santa Lucia ins nächste Café fallen, sehen wir bereits die ersten Orientalen, die Venedigs Gassen durch die Sucher ihrer Kameras betrachten. Unsere Nasen wittern die Kanäle - die duften zwar nicht orientalisch, aber immerhin exotisch. Wir spüren auch den Wind; er weht aus dem Westen. Tauben hören wir noch keine, denn das symphonische Geklapper der Plastikrollkoffer dröhnt alles nieder und wird nur gelegentlich zerhackt durch den Versuch weiblicher Touristen, ihre 10-Kubikmeter-Samsonites über Brückentreppen rollen zu wollen.
Venedig bildet die Globalisierung in klein ab: Heerscharen von Menschen aus der ersten Welt reisen zur Serenissima, um dort Souvenirs zu erstehen: Gondeln aus Porzellan, Muranoglas-Imitate, Masken für den Karneval, geschmacklose Venedig-Hüte, Venedig-T-Shirts und natürlich die unvermeidlichen Hard-Rock-Café-Venice-Sweater. Der ganze Krempel wurde, so darf man mutmaßen, von Menschen in der zweiten und dritten Welt hergestellt - solchen also, die keine Knete für diese Reise hatten und auch nie haben werden. Immerhin bekommen die Arbeitskinder in den Souvenirfabriken einen Eindruck von der restlichen Welt, nämlich durch die produzierten Andenken. Das Fließband für die Gondeln befindet sich möglicherweise direkt neben dem für den Pariser Plastik-Eiffelturm, dem Plastik-Big-Ben, dem schiefen Plastikturm von Pisa, den Plastikpyramiden und der Plastik-Freiheitsstatue und so weiter. Die brauchen also gar nicht zu reisen, und ergo müssen wir auch kein schlechtes Gewissen haben.