Fortsetzung...
Nikita ist der Schwachpunkt des Systems: zwar eine ausgezeichnete Agentin, aber noch nicht bar jedes Gefühls und jeder Moral - da muß sie noch viel lernen und so manche Gehirnwäsche über sich ergehen lassen. Nikitas "Ausbilder" und späterer Lover Michael (Roy Dupuis) ist der einzige operative Agent mit Zugang zu Geheimwissen. Seine Vorgesetzten betrachten ihn mißtrauisch und fürchten, daß er sie eines Tages ersetzen wird. Die Beziehungen der einzelnen Agenten untereinander sind nicht statisch, sondern - auch ungewöhnlich für eine Serie - entwickeln und verändern sich von Staffel zu Staffel. Aber auch Sektion Eins ist nicht autonom, sondern einer anderen mysteriösen Vereinigung untergeordnet. In der vierten Staffel stellt sich dann auch heraus, wer der wirkliche Chef der Organisation ist: eine Neurochirurgin.
Vieles erinnert hier an die 60er-Jahre-Kultserie "Nummer 6" ("The Prisoner"), bei der man die Nutznießer der Machtstrukturen ebenfalls nie personell festmachen konnte. Die zunehmende Dominanz des Staates über das Individuum spiegelt sich auch in Killer-Filmen wieder. Alain Delon ("Der eiskalte Engel") oder Charles Bronson ("Kalter Hauch") waren in den 60er und 70er Jahren Freelancer, die auf eigenen Wunsch für staatliche Organisationen mordeten, auch Aufträge ablehnten oder sich anarchisch gegen die Auftraggeber wandten. Sie gehorchten nur sich selbst und unterwarfen sich keiner Organisation. Damit ist es längst vorbei. Die Mafia-Filme der letzten Jahrzehnte zeigten, daß beim hohen Niveau des organisierten Verbrechens kein Platz mehr für Einzelgänger ist. So ergeht es jetzt auch den Killern, die nicht mehr auf eigene Rechnung ihre blutigen Dienste anbieten dürfen, sondern nur noch als Rädchen im Getriebe agieren, ohne Entscheidungsfreiheit oder genaues Wissen um die "wet jobs", wie die Mordaufträge im Geheimdienstjargon genannt werden. Das Ende aller Romantik.
Indem "Nikita" unser System der "freien westlichen Demokratien" als blutrünstig, amoralisch und profitgeil darstellt, übt die Serie Kulturkritik, wie man sie seit "Miami Vice" oder "Wiseguy" nicht mehr gesehen hat. Doch sie ist nicht moralinsauer oder auf simple Antworten bedacht. Sie stellt eher Fragen und spielt durch, was an an zivilisatorischen Alternativen heute überhaupt noch möglich ist. Und sie zeigt den neuesten Stand der Technik, zu der ansonsten nur Experten und Militärjournalisten Zugang haben (konsequenterweise linkt eine "Nikita"-Homepage zu allen wichtigen Herstellern von Kriegstechnik).
Geschickt arbeiten die Autoren auch aktuelle Bezüge ein: von Kinderpornoringen über Proliferation bis zur Bombardierung von Botschaften. Natürlich geschieht dies immer mit mehr faktischem Hintergrundwissen als bei all den elenden deutschen Produktionen, die Kindesmißbrauch auf einer falschen psychologischen Ebene behandeln und die wirtschaftlichen und politischen Dimensionen verschweigen. Die Aussagen der Serie über politische Hintergründe sind nicht die, die der Zuschauer durch Zeitungen oder Fernsehnachrichten erhält (und die er längst nicht mehr glaubt).
Diese Realitätsbezüge, die nach bester Verschwörungstradition funktionieren, geben dem Zuschauer das beklemmende Gefühl, hinter die Zeitungsmeldungen zur Weltpolitik zu blicken. Andere Motive und Interessen als die öffentlich zugegebenen stehen hinter so mancher militärischen Terroraktion. Die Serie suggeriert Einblick in die geheime Welt hinter den offiziellen Verlautbarungen. Die Agenten der Sektion Eins erscheinen wie Geister, die nichts mit normalen Menschen zu tun haben. Sie gehören einer anderen Dimension unserer Realität an. Gerechtigkeit oder Gesetzmäßigkeit haben in dieser Welt keine Bedeutung - eine Erfahrung, die der Zuschauer zunehmend auch in der Realität macht. "Nikita" spiegelt einen zivilisatorischen Verfall, in der ein mafioser Staat und seine Zombie-Helfer rücksichtslos Interessen durchsetzen - wenn es sein muß, auch auf Kosten des Gemeinwohls. Nikitas Menschlichkeit steht unter dauerhaftem Druck durch die Institutionen, denen sie hilflos ausgeliefert ist und die völlige Kontrolle über ihre Existenz verlangen. Wenn sie in einer Folge hilflos aufschreit: "Euch gehört meine Seele nicht", muß niemand aus der Sektion darauf antworten. Natürlich wollen sie ihre Seele.
Im Grunde ist der Subtext der Serie ganz simpel: Es geht um einen Menschen, der gegen seine Bedürfnisse dazu gezwungen wird, in einem System zu funktionieren, das keine Humanität mehr zuläßt. Auf die Frage, ob er glaubt, daß eine Organisation wie Sektion Eins tatsächlich existiert, antwortete Joel Surnow: "Mit Sicherheit. Aber ihr Design ist bestimmt nicht so gut wie unseres."
Eine derartig komplexe Serie hat bei RTL 2 wirklich nichts zu suchen, und darum dürfte wohl auch dieser Sendeversuch wieder scheitern. Das grölende Ballermannpublikum des Senders, das schon stolz ist, wenn es die "Big Brother"-Prolls auseinanderhalten kann, wird völlig überfordert. "Nikita" sollte eher nachts in einem 3. Programm der ARD, auf ARTE oder in 3-SAT ausgestrahlt werden - also dort, wo sich Alphabeten hinretten, die das Fernsehen noch nicht ganz aufgegeben haben.
Sendetermin:
"Nikita" - Samstag, 20.15 Uhr, RTL 2