Fortsetzung...
Unheimliche Entdeckungen
Eine zusätzliche Spezialität von Ash-Tree Press ist das Aufstöbern gänzlich unbekannter Einzelwerke von in Vergessenheit geratenen Autoren. Darunter finden sich viele englische Pfarrer, die essentielle Beiträge zum Gruselgenre beitrugen, aber auch Populärautoren, die einmalige Ausflüge in den Bereich des Übernatürlichen unternahmen, oder völlig obskure Schreiberlinge, die nach der Publikation eines einzelnen Bandes in der Versenkung verschwanden. Auch diese Bücher werden jedesmal äußerst sorgfältig recherchiert und mit soviel bio- und bibliographischer Information wie möglich ausgestattet.
Als Beispiel für diese Kategorie wäre etwa der Titel "In Ghostly Company" von Amyas Northcote zu empfehlen. Jede einzelne Geschichte in diesem Band läßt die Nackenhaare des Lesers in kürzester Zeit zu Berge stehen. M. P. Dare ist ein weiteres Zuckerl für Fans grusliger Geschichten - und sein Buch "Unholy Relics" eine Empfehlung für alle, die nach ausgefallenem Lesestoff suchen. In "Sleep No More" von L. T. C. Rolt wiederum konzentriert sich das übernatürliche Geschehen auf so ungewöhnliche Orte wie Eisenbahntunnel, Wasserkanäle oder Minenschächte. Es findet sich sogar eine Geschichte in dem Band, die das unglaubliche Kunststück zuwegebringt, während eines Autorennens eine derart unheimliche Stimmung zu erzeugen, daß einem gar nicht mehr bewußt ist, in welcher prosaischen Umgebung die Story handelt...
"Six Ghost Stories" von T. G. Jackson ist eine verschollen geglaubte Sammlung längerer Erzählungen, die der Autor als Lehrer zur Entspannung für seine Schüler schrieb; allerdings sind alle sechs darin enthaltenen Geschichten so grauenerregend, daß der erwünschte Effekt ganz bestimmt nicht eintrat... "Randall´s Round" von Eleanor Scott andererseits ist ein schmales Bändchen, dessen Inhalte Elemente des "Wicker Man" vorwegnehmen oder sich um Seelenwanderung und Reinkarnation drehen.
Geschenke & Fehlschläge
Neben all den Klassikern läßt Ash-Tree natürlich auch das Werk zeitgenössischer Autoren nicht links liegen. Neben dem bereits erwähnten Terry Lamsley erschien beispielsweise Jonathan Aycliffes Roman "The Talisman" in dem bemerkenswerten Verlag. David G. Rowlands publizierte eine Sammlung seiner besten Kurzgeschichten unter dem Titel "The Executor"; der britische Autor John Whitbourn veröffentlichte zwei Bände seiner skurrilen "Binscombe Tales"; und Paul Finch - ein Autor, bei dem die Realität nie so ist, wie man sie kennt, sondern alle Blickwinkel verschoben und sämtliche Gesetzmäßigkeiten aufgehoben sind - steuerte den Titel "After Shocks" bei.
Das jüngste Großprojekt der Rodens ist die soeben erschienene Sammlung "A Pleasing Terror". In diesem Band haben die beiden zum ersten Mal sämtliche übernatürlichen Erzählungen ihres Lieblingsautors M. R. James zusammengefaßt. 712 Seiten ist das Werk stark; allerdings muß der geneigte Sammler dafür auch 75 Dollar hinlegen, Porto nicht inbegriffen.
Zusätzlich zu alldem "schenkt" Ash-Tree Press seinen Fans auch noch ein jährliches Weihnachtsextra - das "Ash-Tree Annual Macabre". In diesen eher schmalen Bänden finden sich jeweils zu einem Thema zusammengefaßte, unbekannte Stories von bekannten Autoren aus dem Bereich der Weltliteratur. So stößt man darin beispielsweise auf Genreausflüge von Leuten wie William Somerset Maugham, Hilaire Belloc oder Sax Rohmer.
Seit Mitte 1998 veröffentlicht Ash-Tree Press einen neuen Titel pro Kalendermonat. Natürlich muß bei so einem Output die Qualität der einzelnen Titel etwas schwanken; allerdings gibt es bei Ash-Tree kein einziges Buch, das nicht ein gewisses Qualitätsniveau erreichen würde. Zu den schwächeren Bänden gehört nichtsdestotrotz "The Far Side of the Lake" von Steve Rasnic Tem. Tem ist eine der schillerndsten Figuren der jüngeren Horror-Autorengeneration und wird oft in einem Atemzug mit dem grenzenlos überbewerteten Thomas Ligotti genannt. Bei beiden Autoren wirken die Geschichten wie auch deren Titel oft prätentiös und bewußt auf schräg getrimmt. Auch passiert es ihnen gelegentlich, daß vor lauter gewollter Subtilität die Substanz der Geschichten zu leiden beginnt. Das Übernatürliche passiert dann so unbemerkt, daß man sich am Ende einer Geschichte oft fragt, was man denn nun eigentlich Phantastisches gelesen haben soll.
Der für Phantastikfreunde durchaus interessante Autor Julian Hawthorne, Sohn des grandiosen Nathaniel Hawthorne, kann in seinen Kurzgeschichten ebenfalls nicht immer überzeugen. Obwohl Jessica Amanda Salmonson in ihrem Vorwort zu "The Rose of Death" behauptet, Julian käme qualitativ an die Hauptwerke seines Vaters ("The Scarlet Letter" oder "The Marble Faun") heran, teilt man diese Euphorie nach der Lektüre des Bandes eher nicht. Hawthornes Geschichten sind oft naiv und altmodisch in ihren moralischen Ansichten - und eignen sich garantiert nicht zum Gruseln.
Ein weiterer Autor, der mit zwei Bänden bei Ash-Tree Press verlegt wurde, ist Robert W. Chambers, der im deutschsprachigen Raum durch sein Hauptwerk "The King in Yellow" bekannt wurde. Darin nimmt er die Idee zu einem fluchbeladenen Buch vorweg, die Lovecraft zu seinem legendären "Necronomicon" inspirierte. So gut diese Geschichte auch ist, so schlecht ist leider der Rest, und es überrascht nicht, daß "The King in Yellow" die einzige Story von Robert Chambers ist, die weiterhin anthologisiert wird.
Wer trotz dieser vereinzelten Fehlschläge Lust bekommen hat, sich Ash-Tree-Bücher genauer anzusehen (und es zahlt sich aus!), der möge die übersichtliche Webpage des Verlags besuchen und gleich zu bestellen anfangen. Allerdings sollte dabei erwähnt werden, daß sich die Rodens ihre Mühe angemessen entlohnen lassen. Im Schnitt muß man 50 Dollar für jedes ihrer literarischen Juwele hinblättern; will man eine vergriffene Rarität an Land ziehen, so darf man durchaus mit einem drei- bis viermal so hohen Preis rechnen. Die Ausstattung der Bücher läßt das bibliophile Herz jedoch jedesmal höher schlagen - viele der Bände sind illustriert, alle mit wunderbaren Schutzumschlägen versehen und einige sogar handnumeriert.
Wenn das alles noch nicht genügt, dann sei an dieser Stelle noch kurz auf die vielen anderen Kleinverlage hingewiesen, die große Arbeit im Bereich der unheimlichen Phantastik leisten: Sarob Press in Wales, Midnight House in Seattle, Tartarus Press in Yorkshire oder Durtro Press in London. Doch das sind ganz andere Geschichten...