Jemand, der sich selbst als Erwachsener noch dauernd mit seiner Psyche und den Leiden der Jugendzeit beschäftigt, hat natürlich nichts Besseres zu tun, als ansonsten "kritisch" über Unwichtiges herzuziehen. Benny Denes begleitete eine solche Kandidatin auf einer ziemlich abseitigen Reportage durch seine Heimatstadt.
Die Phase der Selbsthilfegruppen hat auch meine Stadt längst hinter sich gelassen. Doch die wirklich heterogene Gruppe der heute 35jährigen Berlinerinnen ist fraglos noch heute stark davon geprägt. In meinem Freundeskreis gibt es ebenfalls einige dieser Humanistinnen, deren analytische Autoreferentialität bisweilen sehr anstrengend sein kann. Manchmal ist es aber auch ganz unterhaltsam, eine von ihnen beim Versuch zu begleiten, Klarheit über die große, anonyme Stadt zu gewinnen.
"Du bist doch Autor!" sagte Verena bei einem Grillabend an einem der ersten lauen Sommertage zu mir. Sie hatte mir ein Angebot zu machen - ich sollte etwas schreiben. Nun hassen Journalisten diese Situationen, wenn Freunde und Bekannte einen für die Personifizierung der "Bild-Zeitung" halten und hoffen, daß man irgendeinen belanglosen Mißstand aus ihrem Alltag investigativ behandeln und publizieren würde. Ähnlich war es auch in diesem Fall: Die junge Mutter Verena wollte einen Aufzug-Report erstellen. Genauer gesagt wollte sie, daß ich sie auf einer Tour durch diverse Berliner U- und S-Bahnhöfe begleite, um festzustellen, welche Aufzüge dort funktionierten, vor allem aber welche nicht. Weil an Grillabenden auch in Berlin Faßbier eine beliebte Erfrischung ist und weil ich an diesem Abend eines großen Maßes an Erfrischung bedurfte, willigte ich kurz vor Mitternacht ein.
Die Konsequenz war, daß Verena und ich in der darauffolgenden Woche mit Notizblock und Photoapparat loszogen, um Aufzüge zu testen. Glücklicherweise hatte sie nicht ihre Androhung wahr gemacht und ihren überdimensionalen Kinderwagen mitgenommen. Am S-Bahnhof Bundesplatz funktionierte der Aufzug nicht, und Verena triumphierte. "Der fährt immer nur an Sonntagen. Weißt du auch, warum? Hier um die Ecke wohnt der Chef der S-Bahn, und der fährt wochentags mit dem Auto zur Arbeit, aber am Sonntag macht er Ausflüge mit seiner Familie und benutzt die S-Bahn." Auf meine Frage, wieso denn ein Aufzug wöchentlich gewartet werden müsse, hatte Verena eine erstaunliche Antwort parat: "Das hat ja nichts mit Wartung zu tun. Ich habe mal die Firma, die die Dinger herstellt, angerufen - und die sagten, daß der Funktionsschalter ausgestellt sei." Ich entdeckte erste Ansätze einer großen Verschwörung.
Gerade, als ich meine Aufzeichnungen um ein Photo komplettieren wollte, setzte sich jedoch die Aufzugskabine, in der wir das Problem "vor Ort" diskutierten, in Gang. Keine Überraschung für Verena: "Da hat jemand unten am U-Bahnhof den Fahrstuhl gerufen, das funktioniert. Damit wird derjenige aber nicht wieder hochfahren können!" Derjenige war eigentlich diejenige, und zu meiner Verwunderung kannte Verena die Frau, die natürlich einen Kinderwagen an ihrer Seite hatte. "Ach, hallo! Das ist Benny, der ist Journalist. Das ist Meike, die hat die Aufzüge auf der U8 und der S5 getestet." Meike wußte offenbar nicht, daß der Aufzug sie und den Kinderwagen nicht nach oben befördern konnte, also stieg sie zu uns in die geräumige Kabine und drückte das "S", den Befehl zum Aufstieg. Tatsächlich tat sich daraufhin nichts, und Verena machte einen Haken auf eine gewiß zwei Meter lange Rolle perforierten Endlospapiers. Da zückte Meike eine Büroklammer, steckte sie in ein Loch neben dem Kontroll-Panel des Fahrstuhls, und die Kabine begann nach oben zu fahren.
Wir setzten unsere Fahrstuhlinspektion noch für drei weitere Stunden fort. Meike konnte uns zwar leider nicht begleiten, aber Verena erzählte mir, wie sie vor einigen Monaten den Vater ihrer Tochter aus der gemeinsamen Wohnung verbannt hatte. Meike und Verena kennen sich aus einer Selbsthilfegruppe. Den Artikel über die Aufzüge habe ich hiermit geschrieben, liebe Verena!