Wieviele Zahlenkombinationen werden wir uns noch merken müssen, um im normalen Alltag weiterhin funktionieren zu können? Benny Denes versorgt EVOLVER-Leser und -innen mit Überlebensstrategien für die "Vier-Stellen-Gesellschaft".
Vor einigen Wochen kam eine Folge der "Sesamstraße" aus dem Jahre 1973 als Wiederholung im Vormittagsprogramm eines sonnigen Samstags. Graf Zahl erklärte in einer Sequenz die Bedeutung und Verwendung der "Zahl 4". "Tiere haben meistens vier Beine", veranschaulichte er. "Mit vier Jahren hast du das zum ersten Mal verstanden", mutmaßte der Großmeister des Areals zwischen der 1 und der 9. "Ein Kleeblatt mit vier Blättern bringt Glück, sagt man", beendete der Graf dann seine Ausführungen. Wie unschuldig, harmlos und freundlich wirkten seine Beispiele über eine Ziffer, die für unsere Tage genauso viel bedeutet wie die markanten Zahlen der Illuminaten, der Kabbala oder des Satanismus für vergangene Zeiten.
Der moderne und zivilisierte Einwohner eines westlichen Industriestaats muß nicht mehr auf den Goldenen Schnitt, die goldene Mitte oder die A-B-C-Ausgewogenheit achten. Bis zu den neunziger Jahren kamen wir mit drei Varianten und drei Stellen bestens aus. Erst mit der flächendeckenden Verbreitung von Kredit- und Scheckkarten begann das Unheil. Vier Stellen umfaßt deren Geheimcode - und allein anhand der Übersetzung des Wortes "PIN" ins Deutsche können schon etliche Verschwörungstheorien gestrickt werden.
Aber so eine knackige, vierstellige Geheimnummer war doch kein Problem für uns! Wie haben wir unsere Eltern belächelt, wenn sie damals die vier Ziffern auf ein klitzekleines Blatt schrieben, dieses in ein nur unwesentlich größeres Kuvert steckten und jenes dann in den Boden der Jugendstilkommode steckten. Nicht, daß sie auch nur einmal die Notiz zu Hilfe hätten nehmen müssen - nur der Respekt vor dem Geheimcode war groß. Es herrschte (wenn sie auch nie so geäußert wurde) die Ansicht, etwas besonders Schlimmes würde mit dem passieren, der seinen PIN vergessen würde. Enteignung, drakonische Strafen oder zumindest gesellschaftliche Verspottung schienen unabwendbare Folgen eines Gedächtnisausfalls.
Die zweite Phase des Kreuzzugs (ein Kreuz hat vier Endpunkte!) der Vier wurde von der Gilde der Kreditkartenunternehmen begonnen. Jeder, aber auch jeder, der in einem Haushalt mit einem monatlichen Nettoeinkommen über öS 30.000,- lebte, wurde das Ziel unerbittlicher Werbemaßnahmen, diese Gold-Karte oder jenen Master-Ausweis anzuschaffen. Daraus folgte unweigerlich der Hang zum Zweit- und Dritt-PIN. Inzwischen schrieben auch diejenigen, die einst noch über vorsorgliche Notizaufnehmer gelächelt hatten, ihre zwei oder drei Varianten einer Vier-Ziffern-Kombination auf.
Vor Geldautomaten, an Tankstellenkassen und im Reisebüro kam es dann zu den ersten "Access-Infarkten". So kann man das Phänomen bezeichnen, wenn Menschen ihre PINs vergessen, falsch kombinieren oder zuordnen. Nach ein bis zwei Fehlversuchen veränderte sich das verlegene Lächeln der Kollabierenden in eine panische Wut über "diesen Schwachsinn mit den Zahlen!" Verkäufer gaben sich verständnisvoll, bonierten Sektflaschen und Rehkeulen geduldig zurück, doch die Automaten blieben hart. Beim dritten Versuch schluckten sie die Karten oder sperrten sie gleich lebenslänglich. Hatte sich hinter dem Infarktpatienten eine Schlange gebildet, so erfüllten sich alle Phantasien der Verschwörungstheorie samt der gesellschaftlichen Demütigung. Vom bitteren Gang zum Bankschalter, wo man seinen Access-Infarkt offen darlegen mußte, um überhaupt noch an das schwer verdiente Geld zu kommen, kehrten die Betroffenen oft um den absolut notwendigen Ratschlag des Bankbeamten reicher zurück, sie sollten sich doch zukünftig ihren Geheimcode aufschreiben.
Sie können sich inzwischen sicher vorstellen, wie Phase 3 der Umwandlung in die vierstellige Gesellschaft aussah (und immer noch aussieht). Längst haben Mobiltelefone, sogenannte Handys, eine flächendeckende Verbreitung gefunden; der "Spiegel" berichtete unlängst vom Hang zum Dritt-Handy (privat, dienstlich und WAP - oder auch D-Netz, E-Netz und Prepaid). Für jedes Handy mußte im Gedächtnis ein weiterer vierstelliger Code gespeichert werden; die einstmals mystische Note des persönlichen, ureigenen und nicht einmal dem Ehepartner mitzuteilenden PINs konnotierte längst nicht mehr das gesellschaftliche Verständnis der vier Ziffern.
An Stammtischen begannen die Meinungsführer über Regelmäßigkeiten und Ausnahmen bei der PIN-Vergabe zu fabulieren. So gab es Ende der neunziger Jahre beispielsweise die Mär vom "Anfang-Null"-System der Sparkassen; andere Bürger waren fest davon überzeugt, daß jedem lumpigen Hacker die Karte oder das Handy an sich reichen würden, um den Code zu knacken. Der Access-Infarkt wurde zu einem Therapiegegenstand, das Vergessen aller PINs als unterbewußt gewählte Verweigerung gegen die vierstellige Gesellschaft eine Alltäglichkeit. Der kollektive Alptraum der 2000er-Katastrophe war in Wirklichkeit die stille Hoffnung aller Codemuffel auf die Erlösung vom belastenden Zahlenwissen.
Als sei das alles noch nicht genug gewesen, versorgen uns gewissenlose Fernsehsender inzwischen auch alltäglich mit der alphabetischen Variante des vierstelligen Sozialparadigmas. "Ist es a) Hamlet, b) Othello, c) Lord Capulet oder d) Lear?" Derartige Fragen werden in Formaten wie "Wer wird Millionär?" im Minutentakt ausgegeben. Allzu dreistellig gepolte Kandidaten sind chancenlos, zumindest, wenn sich die Antwort hinter dem so unscheinbar wirkenden "d)" (also der 4) verbirgt.
Da gerade wieder die Schlüsselzahl unserer Tage aufgetaucht ist: Wir sind mittlerweile in Phase 4 der vierstelligen Gesellschaft angelangt. Phase 5 wird es selbstverständlich nicht geben - wir stehen nämlich vor dem Schritt ins fünfstellige Zeitalter. Beim Online-Banking, für den Zugang zum E-Mail-Server und für viele weitere "Schlösser" benötigt der moderne und zivilisierte Bürger schon heute eine Fünferkombination.
wir
bleiben
für
Sie
dran.