Wer sich in den Wintermonaten auf einen anspruchsvollen 1200-Seiten-Wälzer stürzen möchte, dem sei "Cryptonomicon" - die logische Fortsetzung von Cyberpunk - wärmstens empfohlen. Stefan Becht porträtiert den Autor, Kryptographen und Dechiffrierer digitalen Hackerlateins, Neal Stephenson.
Eigentlich ahnten wir es ja schon im Dezember 1996. Warum es dann tatsächlich so furchtbar lang dauerte, bis der neue Roman des amerikanischen Autors Neal Stephenson in deutscher Sprache erschien, das begriffen wir jedoch erst, als "Cryptonomicon" vor uns lag: 918 Seiten im Original, 1200 in der deutschen Übersetzung. Und dabei schreibt der Mann angeblich alles mit der Hand, mit dem Füllfederhalter auf Papier. Doch eines nach dem anderen...
Anfang 1996 unterhielt sich Kevin Kelly, der damalige Chefredakteur der amerikanischen Zeitschrift "WIRED", mit dem SF-Autor Neal Stephenson. Dieser zählt - wie beispielweise auch Douglas Coupland, Bruce Sterling, Steven Levy, Stewart Brand, William Gibson oder Nicholas Negroponte - zu den regelmäßigen Autoren des Blattes. Wieder einmal sollte es darum gehen, den Leser zu überraschen, in der Art, wie "WIRED"-Gründer Louis Rossetto es so schön formuliert hatte: "amuse us". Das heißt also z. B., daß Geschichten aus neuen und ungewohnten Perspektiven erzählt werden sollten - ein Prinzip, mit dem die Kultillustrierte schon mehrmals journalistische Maßstäbe gesetzt hatte. Kelly fragte Stephenson, ob er sich vorstellen könne, eine Story über die gerade stattfindende Verlegung des Fiberoptic Link Around the Globe (FLAG) zu schreiben? Dabei handelt es sich um ein 28.000 km langes, 1,5 Milliarden Dollar teures, in England beginnendes, durch den Suezkanal führendes und in Japan endendes Untersee-Glasfaserkabel, das längste der Welt, das vornehmlich für das Internet eingesetzt wird.
Stephenson konnte. Im Sommer 1996 tauschte er seinen Füllfederhalter gegen ein modernes GPS-Gerät und seine Jeans gegen Shorts ein und machte sich auf nach Malaysia, seiner ersten Station, um die Verlegungsarbeiten von FLAG zu beobachten. Mit dem Satz "Information moves, or we move to it" begann dann in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Stephensons überraschende fünfzigseitige (!) Titelgeschichte, angereichert mit technischen Details, Eindrücken vor Ort, Stimmungsimpressionen, Photos und historischen Exkursen über die Verkabelung der Welt seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts.
Der "Hacker-Tourist", wie Stephenson sich selbst bezeichnete, war nach Malaysia in Thailand, Hongkong, Japan, Ägypten und England unterwegs gewesen - und was er unter der Headline "Mother Earth Mother Board" ablieferte, ist bis heute eine der spannensten und lesenswertesten Geschichten über die Vernetzung und die damit verbundene Digitalisierung unserer Welt und unseres Lebens. Seine Story ist ein episches Glanzlicht, selbst für "WIRED", jene Zeitschrift, die das digitale Lebensgefühl praktisch im Alleingang popularisierte, bevor sie - unter der Ägide des Großverlags Condé Nast - zu einer "Techno-Vogue" mutierte.
Stephensons FLAG-Stück fand, nicht nur in Deutschland, unheimlich viele "Nacherzähler". Einige Wochen nach Erscheinen der Ausgabe kündigte Stephenson beim Online-Chat mit den Lesern auf "Hotwired" (http://www.hotwired.com) etwas an, das seine Fans in freudige Erwartung stürzte: "Mir haben diese Recherchen bei der Arbeit an meinem neuen Buch sehr genützt." Worum es darin gehe, ob es eher technisch-reportagenhaft oder ein "richtiger Stephenson" sein würde, fragte ein neugieriger Chatter. "Ein richtiger Stephenson", kam die etwas verspätete Antwort, aber mehr wolle er nun nicht verraten.
Doch was, stellt sich die Frage, ist ein "richtiger Stephenson"?
Hiro Protagonist & Co.
Zuerst einmal fallen die Romane des US-Schriftstellers mit Sicherheit in die Schubladen "Cyberpunk" und "Kult". Mit dem perfekten Gespür für das richtige Thema zur richtigen Zeit setzt der studierte Physiker und Geograph, der aus einer naturwissenschaftlichen Akademikerfamilie stammt und in Illinois und Iowa aufgewachsen ist, seit den 90er Jahren neue Maßstäbe in der Science-Fiction-Literatur.
Im 1992 erschienenen "Snow Crash" läßt er seinen Helden Hiro Protagonist, der für den "Cosa Nostra Pizza"-Zustelldienst arbeitet und einer der letzten unabhängigen Hacker seiner Zeit ist, in der Gestalt eines "Avatars" (einer angenommenen, künstlichen Persönlichkeit) in den Cyberspace eintauchen und die Welt vor der Infokalypse retten. Das Buch liefert eine Fülle von Referenzen an die Gilde der Fantasy-Rollenspieler und die Menschen ab, die sich in MUDs und MOOs - den ersten virtuellen Räumen, in denen Menschen neue Persönlichkeiten (oft Phantasiegestalten) annehmen konnten - des frühen Internet herumtrieben. Virtuelle Realität und "echte" Realität mischen sich hier nahtlos, und die später von der Sozialwissenschaftlerin Sherry Turkle (MIT) getroffene Aussage: "Ich bin viele" ("Life on the Screen") nimmt Neal Stephenson hier erzählerisch vorweg.