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Fortsetzung Scene 1 - Eingeklemmt
In der Zwischenzeit hat der Psychologe den Oberkörper des Mannes in eine graue Wolldecke gewickelt, weil dieser trotz des spätsommerlichen Wetters friert. Die beiden duzen sich mittlerweile. Uli heißt der Eingeklemmte, Gerd ist sein Betreuer. "Das ist doch große Scheiße, Gerd! Ich mein´, so ein Dreck. Das kann ich nicht mal erzählen, so ein Mist ist das!" Der Mann kann sich nicht mehr richtig artikulieren, lallt und hat einen verklärten Blick, als hätte er zuviel Alkohol getrunken. Gelegentlich zittert er vor Schüttelfrost und stöhnt leise, aber unüberhörbar. Der Psychologe unterhält sich kurz mit dem Notarzt und wirkt dabei recht niedergeschlagen. Er reibt sich immer wieder die geschlossenen Augen und streift dann mit Daumen und Zeigefinger über seine Nase. Der Notarzt hat ihm erklärt, daß der Mann nun schon über eine Dreiviertelstunde eingequetscht sei, was den Ernst der Lage zusätzlich verschärfte. Er sollte Uli halbwegs menschlich klar machen, daß die beste Variante noch wäre, ihn von unten her freizuschneiden. Dies würde ihn zwar ein Bein kosten, aber wenigstens seine Überlebenschancen erhöhen. Auch den Zuhörern des Gesprächs ist die Beklemmung anzumerken. Der Notarzt erklärt einigen Beamten, wo das Problem liegt: "In der Medizin heißt das 'Crush-Kidney-Syndrom'! Wenn jemand für längere Zeit, also mindestens eine halbe Stunde, verschüttet oder eingeklemmt ist, stoßen die abgeklemmten Muskeln große Mengen eines Stoffes namens Mioglobin aus." "Meine Schwester hat Diabetes, die muß immer ihren Hämoglobinspiegel messen", meldet sich der Wachmann. "Genau", antwortet der Notarzt nickend. "Das ist ein ganz ähnlicher Stoff. In kleinen Mengen sinnvoll, aber ein bißchen zuviel davon, und schon gehen die Nieren kaputt." Dem Gequetschten droht also akutes Nierenversagen, wenn er nicht bald aus seiner Lage befreit wird. Deswegen zögert der Psychologe wohl auch nicht lange und erklärt dem Mann seine mißliche Situation. Aus der Entfernung macht es den Eindruck, als sei der Eingeklemmte mittlerweile verrückt geworden, zumindest scheint er seinem Vertrauten Gerd nicht mehr zu glauben. Er wird unruhig, lacht dann hysterisch und schreit: "Ihr seid doch unfähig! Ich weiß schon, warum ich sonst Auto fahre!" Die wenigen Schaulustigen wenden sich nun von dem Mann ab und bewegen sich an die Enden des Bahnsteigs. Sie scheinen zu fühlen, daß bald etwas Schlimmes passieren wird. Uli hat sich vor ein paar Sekunden übergeben und wird nun vom Psychologen und einem Sanitäter beruhigt. Er soll ein paar Löffel Kraftbrühe zu sich nehmen, die er allerdings nicht haben will. "Muß ich wirklich ein Bein verlieren?" sagt er plötzlich leise zu Gerd. Der Psychologe ist trotz der unangenehmen Frage erleichtert und geht zum Einsatzleiter der Feuerwehr. Nach wenigen Augenblicken betreten der S-Bahn-Fahrer und zwei Feuerwehrleute den leeren Waggon. Durch eine Luke in der Mitte steigen die Feuerwehrleute unter den Wagenboden; sie haben eine Kreissäge bei sich. Nun werden alle nicht direkt Beteiligten von der Polizei gebeten, sich aus der Umgebung des Eingeklemmten zu entfernen. Man hört die kreischenden Geräusche der Säge und meint auch immer wieder ganz leise, wie eine Querflöte in einem Symphonieorchester, das Stöhnen des Mannes zu hören. Auf dem Gegengleis fährt ein voller S-Bahn-Zug in Richtung Oranienburg durch den Bahnhof. Scheinbar ist der Schienenersatzverkehr aufgehoben worden und nur noch dieser Bahnsteig abgesperrt. Als der Lärm des Zugs nachläßt, verstummt auch das Geräusch der Säge. Nun geht alles sehr schnell. Der Mann wurde scheinbar befreit und in Windeseile auf eine Trage des Rettungswagens gelegt. Man sieht nur noch die Sanitäter die Treppe hinaufrennen, Psychologe und Notarzt eilen hinterher. Ein Polizist erklärt den Unfallhelfern, daß das Opfer "ins AVK" gebracht werde, das nahegelegene Auguste-Viktoria-Krankenhaus. 73 Minuten, nachdem der Mann vom Zug der S-Bahn-Linie 1 nach Oranienburg eingeklemmt worden war, hört man ein diffuses Gemisch verschiedener Martinshörner. Der Mann stirbt elf Stunden nach seinem Eintriffen in der Notaufnahme an akutem Nierenversagen; sein Mioglobinspiegel hatte das 145fache des Normalwerts erreicht. Äußerlich hatte er nur ein paar blaue Flecken abbekommen. Als Todesursache wurde offiziell "Crush-Kidney-Syndrom" angegeben. Übrigens plant die S-Bahn-Berlin, den Bahnhof
Feuerbachstraße in einigen Wochen umzubauen; bei dieser Gelegenheit
sollen auch die Bahnsteigkanten verbreitert werden.
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