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Live und mittendrin - die exklusive Reportagen-Reihe, jetzt neu im EVOLVER. In dieser Folge wird Faction-Reporter Benny Denes Zeuge eines tragischen Zwischenfalls im Berliner S-Bahnhof Feuerbachstraße...
 
 

Eingeklemmt
 

"Bitte treten Sie hinter die Sicherheitslinie." Wir alle haben uns an diesen Spruch gewöhnt, aber kaum jemand weiß, was passiert, wenn man ihn nicht beachtet - bis dann plötzlich einer einen Schritt zuviel macht, mitten im Berufsverkehr. Benny Denes war für uns vor Ort.
 
 

Im blendenden Sonnenschein dieses freundlichen Herbsttages drängen sich die Schaulustigen am Berliner S-Bahnhof Feuerbachstraße. Drei Gruppen von Wartenden haben sich gebildet: die, die von links auf das Geschehen blicken, die von rechts Zusehenden und solche, die den Anschein erwecken wollten, sie seien keine gaffenden Glotzer. Die Stimmung ist geladen; wer in Richtung Oranienburg fahren will, hat als Legitimation für seine Neugierde wenigstens die Tatsache, daß sein Zug nicht weiterfahren kann.

Das Subjekt, dem ihre unverhohlenen Blicke gelten, ist ein jüngerer Mann, etwas über dreißig und recht gut gekleidet. Er ist zwischen Bahnsteigkante und dem stehenden S-Bahn-Zug eingeklemmt.

Auf dem schön restaurierten Bahnhof im südlichen Teil Berlins haben sich allerlei (auch selbsternannte) Experten für solche Fälle eingefunden. Zwei Feuerwehrwagen sind angerückt, mit insgesamt acht Mann Besatzung, ein Wagen des Technischen Hilfswerks und diverse S-Bahn- und Polizeibeamte. Dazu kamen vor einigen Minuten auch noch sechs Wachschutzleute, die nun damit beschäftigt sind, Schaulustige von dem Mann fernzuhalten. Der Betroffene wirkt halbwegs gelassen. Er wischt sich ab und zu den Schweiß von der Stirn und wechselt ein paar Worte mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr. Das Problem besteht darin, daß man ihn nicht ohne weiteres aus seiner gequetschten Lage herausziehen kann, weil sein Becken genau in der Lücke zwischen Bahnsteig und Zug feststeckt.

Immer wieder schalten sich auch die Wartenden in die Konsultationen über die Rettung des Gefangenen ein. "Man muß ihn so hin und her ruckeln!" ruft ein älterer Herr mit einer Schiebermütze und wedelt dabei mit seiner Plastiktüte vom Supermarkt gleich neben dem Bahnhof. Eine Studentin schüttelt, nachdem sie das Geschehen einige Minuten verfolgt hat, den Kopf und geht dann weg. Sie studiert Medizin, sagt sie. Sie weiß, wie lange so etwas dauern könne, und sie würde jetzt ohnehin schon zu spät zur der Uni kommen. Dann meint sie noch, daß den Mann ihrer Meinung nach eine Mitschuld treffe, vielleicht sogar die Hauptschuld - schließlich wäre der große Abstand zwischen Bahnsteigkante und Zug an dieser Station bekannt und zusätzlich auf diversen Warntafeln vermerkt.

Eine alte Frau ist ähnlicher Ansicht, obwohl sie keinen Termin verpaßt. Sie hält den Gequetschten für einen Selbstmörder: "Dit passiert doch imma wieda! Neulüsch uff der U9 ooch! Da mußt ick jeschlagene fuffzig Minuten uff meen Zug waaten!" Sie fragt einen der Wachschutzmitarbeiter, wann denn ein Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet würde; schließlich hätte sie nicht ewig Zeit. Der Uniformierte antwortet ihr gelassen, daß er das nicht beurteilen könne. Die Dame solle doch froh sein, daß wenigstens die Sonne scheint.

Nach einer guten Viertelstunde kommt endlich etwas Bewegung in das Geschehen. Der Bahnhofsansager verkündet, daß in Richtung Oranienburg in Kürze ein Schienenersatzverkehr mit Bussen eingerichtet würde, die von der Straße über dem Bahnhof abfahren. Während der Großteil der Wartenden meckernd oder belustigt davontrottet, scheint diese Nachricht dem eingeklemmten Mann Angst einzujagen. Er läßt den Kopf hängen; dann bittet er zaghaft um Wasser.

Inzwischen ist auch ein Mitarbeiter des psychologischen Hilfsdienstes der Feuerwehr eingetroffen, der versucht, das Unfallopfer bei Laune zu halten. Er fragt den Mann, was er denn heute noch vorhabe. "Ich wollte zu einem Geschäftstermin, und mein Auto ist nicht angesprungen. Da komme ich ja garantiert nicht mehr pünktlich hin, aber ich habe gleich angerufen, nachdem das passiert ist. Und heute abend wollte ich mit meiner Verlobten ins Theater gehen. 'Richard III.' im Berliner Ensemble. Kennen Sie Shakespeare? Soll eine hervorragende Inszenierung sein. Danach gehen wir fein essen. Im Manarola, das ist so ein italienisches Lokal mit ligurischen Spezialitäten. Tintenfisch und Pesto, haben Sie vielleicht schon gehört." Der Psychologe leistet gute Arbeit, denn der Mann macht inzwischen wieder einen etwas entspannteren Eindruck.

Immer noch drücken sich ein paar Schaulustige herum, vor allem Leute, die auf Züge aus der Gegenrichtung warten. Allerdings halten sie jetzt mehr Abstand zum Geschehen und sparen sich auch ihre Ratschläge an die inzwischen gut zwanzig Personen umfassenden Hilfskräfte. Ein Polizist spricht mit dem Streckenmanager der S-Bahn darüber, ob man den Bahnhof vollständig sperren solle. Zuvor hatte der Notarzt erläutert, daß die Bergung des Mannes sehr problematisch werden könne. Er könne nicht manuell herausgezogen werden, weil der Zug ihn bei seinem Bremsmanöver in der Lücke fixiert hat. Würde die Garnitur leicht anfahren, dann würde der Eingequetschte entweder mitgeschleift oder von den großen Eisenhaken an der Außenwand der S-Bahn zerfleischt. Der Feuerwehrmann schlägt ein Anheben des S-Bahn-Zuges mit einem Kran vor, was zwar sehr zeitaufwendig, aber immerhin noch die beste Lösung in Hinblick auf die Gesundheit des Gefangenen sei. Der Notarzt ist nicht dieser Meinung; er meint, daß es jetzt nicht mehr primär darum ginge, den Mann aus der Lücke zu holen, sondern schnell ein Leben zu retten. Dabei müsse auch in Kauf genommen werden, daß der Eingeklemmte seine Beine verlieren könnte.

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