Klaus Dinger und Michael Rother - die Neu!-Frontmen, die sich jahrelang im Clinch befanden - scheinen sich wieder zu vertragen, wie man aktuellen Interviews und dem Rerelease ihrer drei Alben entnehmen kann. Immer wieder bekommt man auch den Alleinanspruch Dingers zu hören, diese Form der elektronischen Musik erfunden zu haben. Wieviel Wahrheit steckt tatsächlich dahinter? Ernest Meyer hat recherchiert.

Vorgeschichte: Am Anfang - man kommt nicht drum herum - stehen Kraftwerk, die 1970 noch gar nicht ihr heute so redundant-vertrautes Menschmaschinen-Gehabe repräsentierten, sondern sehr experimentell und "free floating" mittels Orgel, Flöte, synthetischen Streichern und elektronischen Effekten (Flanger, Delay) pulsierende Klangcollagen entwarfen. Ob das nun "Progressive Rock" war oder (frühe deutsche) "elektronische Musik", sei dem geneigten Hörer selbst überlassen.

In den USA war die 70er-"Psychedelia"-Bewegung noch gar nicht so richtig in Schwung gekommen, da überraschten "Kraftwerk" bereits mit ihrer akustisch-elektronisch-hypnotischen Mixtur, die sicherlich nicht jedermanns Sache war, ihnen aber zu Recht einen festen Platz in den Annalen der elektronischen Musik sicherte. Nur: Drummer hatten sie zu Beginn der Aufnahmen für "Kraftwerk 1" keinen, also heuerten die Jungs Klaus Dinger (Schlagzeug) und später Michael Rother (Gitarre) an. Ohne Kraftwerk wären die beiden Herren nie aneinandergeraten. Die Elektronikpioniere benötigten die zwei Studiomusiker aber auch für den Live-Einsatz, denn Sequencing gab es damals (1970) noch nicht.

Die ersten drei Kraftwerk-Alben ("1", "2" und "Ralf & Florian"), seinerzeit auf Philips-Tonträger erschienen, stehen somit symbolisch für den Beginn der von englischsprachigen Kritikern abwertend bezeichneten "Krautrock"-Ära. Zur Erinnerung: "Krauts" (von Sauerkraut) war der Schimpfname der Alliierten für die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs.

Bald nach der ersten Kraftwerk-LP begannen sich Ralf Hütter und Florian Schneider ausschließlich der maschinellen Elektronik zu widmen und den Traum von der Menschmaschine und der ultimativen Loslösung von irdischen Problemen philosophisch auszubauen. Deshalb ist es auch gar nicht seltsam, daß sich die heutigen Kraftwerk nicht mehr so gerne an jene alten Tage zurückerinnern. Das kommt zwar einer Identitätsverneinung nahe, ist aber Marketing-konform. Wir sind die Roboter!

Für Dinger (Schlagzeug) und Rother (Gitarre), die viel stärker mit der akustischen harmonischen Musik verbunden waren, war diese Entwicklung jedoch Grund genug, eigene Wege zu gehen und sich vom blitzsauberen, dehydrierten Maschinenmusik-Image, das Kraftwerk nun für sich in Anspruch nahmen, abzuwenden.

Neu! 1: Wir schreiben das Jahr 1972. Neu! veröffentlichen ihr erstes Album auf Brain-Records (Sammler, aufgepaßt!). Conny Plank, der schon die ersten Kraftwerk-Alben produziert hatte, trieb auch für Dinger und Rother Geld und Studio auf - und in nur zwei Tagen war das Album aufgenommen. Improvisation lautete das Zauberwort jener Ära, und vielleicht lag es ja genau daran, daß in weiteren zwei Tagen alles abgemischt und gemastert war. Dadurch läßt sich auch heute noch, 30 Jahre danach, sehr gut der Improvisationscharakter der Neu!-Musik nachvollziehen. Damit dieses diffizile Material auch live gespielt werden konnte, benötigte man dringend noch einen dritten Mann. In Eberhard Kraneman (Baß), der auch schon mit Kraftwerk gejammt hatte, fand man bald eine ideale Ergänzung. Nun waren Neu! also ein Trio, doch damit beim Live-Act der typische Neu!-Sound erzeugt werden konnte, setzte Rother auch noch ein paar alte Tapes (Tonbänder) ein. Ganz nebenbei wurde also das "Tape-Looping" gleich miterfunden - 1972, wohlbemerkt!

Während amerikanische Designer ihre Bands mit LSD-kompatiblen "Cosmotronic"-Covern verwöhnten, griff Dinger selbst zum Edding-2000-Leuchtstift und malte auf weißem Karton die drei Lettern des erfolgversprechenden Band-Namens samt Rufzeichen quer über die Front. Neu! sollte sich mittels reduktionistischem Konzept-Artwork auch in den Verkaufsregalen deutlich vom Rest unterscheiden, was ja auch funktionierte (siehe auch die Covers der ersten drei Kraftwerk-Alben); immerhin verkaufte sich Neu! 1 allein in Deutschland 30.000mal.

John Peel, der renommierteste aller UK-Radio-DJs, wie immer am Puls der Zeit, entdeckte sofort das Potential, das in manchem der Neu!-Tracks steckte. "Hallogallo" z. B. spielte er im Sender rauf und runter, und das, obwohl das Stück satte zehn Minuten dauert und keinen Gesang enthält. Heute ist das nichts Besonderes mehr, doch damals war es eine sichere Ausnahmeerscheinung.



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