Nach ihrer vielversprechenden EP "Halflife" haben Lacuna Coil ein Album produziert, das man ihnen (und uns) in dieser Reife und Eingängigkeit nur wünschen konnte.
Die Mailänder Gothic-Rock-Band Lacuna Coil hat bisher einen Longplayer namens "In A Reverie" veröffentlicht, der zum Zeitpunkt seines Erscheinens (1998) sehr stark die damals aktuellen Trademarks des Genres aufgriff. Da waren natürlich die Stimmen der Kritiker unüberhörbar, die den Musikern vorwarfen, allzu stark bei The Gathering oder auch Theater of Tragedy zu "klauen". Inzwischen haben sich die Italiener jedoch einen Namen gemacht und das gesangliche Wechselspiel zwischen der ohren- und augenbetörenden Sängerin Cristina Scabbia und ihrem männlichen Gegenstück Andrea Ferro auf ein vernünftiges Maß reduziert. "Vernünftig" bedeutet in diesem Zusammenhang, daß der Mann nur ein Zehntel der Passagen singen darf, während Scabbia buchstäblich den Ton angibt. Sie wiederum hat stimmlich viel dazugelernt und klingt nicht mehr nur wie die gute Fee, die gegen die böse grunzenden und riffenden Männer ankämpfen muß.
"Unleashed Memories" ist definitiv kein Gothic Metal-Album. Im Grunde ist nämlich keine dieser Komponenten eine zutreffende Stilbeschreibung für die knapp 50 Minuten Musik, die auch diesmal wieder von Waldemar Sorychta aufgenommen wurden. Nicht, daß die Songs nicht melancholisch und düster ("Purity") oder die Riffs nicht kraftvoll genug wären ("When A Dead Man Walks") - beim Hören der zehn Tracks denkt man aber trotzdem eher an Pop als an Heavy Metal voller scheppernder Hi-Hats. Der Grund für diese Metamorphose ist im wesentlich reiferen Songwriting zu finden. Bei Lacuna Coil liefen bislang die Instrumentalspuren (wie auch der Gesang) mehr neben- denn miteinander; auf diesem Album aber spielt tatsächlich eine Band in Harmonie. Auch wenn die Musiker sich den "Pop-Schuh" nicht gern anziehen werden, so sollten sie doch darauf stolz sein, sich aus dem eingefahrenen Genre wegentwickelt zu haben. Obendrein muß Pop nicht automatisch "Mainstream" bedeuten. Das neue Album wird denjenigen gefallen, die Härte ohne Aggression mögen, die auf Dynamiken und Harmonien Wert legen und denen die New-Metal-Bands zu formelhaft sind.
Die Chancen, auf anspruchsvollen Radiosendern einmal einen Song von Lacuna Coil zu hören, sind durch die zehn Kandidaten von "Unleashed Memories" erheblich gestiegen. Die Melodien sind wirklich catchy und würden ohne die kraftvollen Gitarren wahrscheinlich sogar ins Kitschige hineinragen. Der Umstand, daß die zuckersüßen Hymnen allerdings von sechs versierten Rockmusikern eingespielt worden sind, verhindert eine Aufnahme der Band in den zweifelhaften Kuschelrock-Kreis.
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