Marianne Faithfull, das bekannteste Groupie der Welt mit sensationeller Stimme, veröffentlicht dieser Tage ein neues Album, das sie musikalisch von einer ungewohnten Seite zeigt. Kollaborationen mit jungen Gitarrenbands und eine Menge Elektronik sollen das etwas angestaubte Image der Sängerin offensichtlich aufpeppen. Herausgekommen ist dabei trotzdem eine eher altmodische Platte, die sich nahtlos in das bisherige Gesamtwerk einreiht.
"Broken English" und das sozialkritische "The Ballad Of Lucy Jordan" machten Marianne Faithfull in den späten siebziger Jahren zu einer der populärsten Sängerinnen ihrer Zeit. Im Jahrzehnt davor hatte sie noch fröhliche Popsongs geträllert, und danach kam nicht nur eine Reggae-Platte in Zusammenarbeit mit dem legendären Produzenten-Team Sly & Robbie, sondern auch eine ganze Menge Brecht/Weill-Interpretationen, mit denen sie in den letzten Jahren auch öfter in Wien Station gemacht hatte.
Insofern war Marianne Faithfull also immer schon äußerst aufgeschlossen, was neue Sounds anging, und hatte nie Berührungsängste mit innovativen Strömungen aus anderen Genres. Trotzdem überrascht es nicht wenig, daß ihre neue CD nun hauptsächlich elektronische Klänge beinhaltet. Und das umso mehr, als sie darauf mit einer ganzen Menge Gitarrenpop-Acts zusammenarbeitet: Jarvis Cocker von Pulp ist darauf vertreten, Damon Albarn von Blur, Billy Corgan von den Smashing Pumpkins, und der sympathische Beck hat gleich die Hälfte der Songs mitgeschrieben und koproduziert.
War Faithfull früher selbst als Groupie von Mick Jagger in die Musikszene gestoßen, so gilt sie heute als Grande Dame des Genres und versammelt mühelos junge Verehrer ihrer Sangeskunst, die sich offensichtlich nur zu gern dazu bereiterklären, das eine oder andere Stück zu ihrem neuen Album beizusteuern. Deren tatsächlicher Einfluß dabei scheint aber doch kleiner als erwartet gewesen zu sein, denn nach einem recht experimentellen Intro folgen nur ein, zwei innovativere Songs, und dann geht es in altbewährter Faithfull-Manier weiter. Natürlich sind die folgenden Nummern nicht schlecht, aber sie halten nicht das, was die ersten beiden zu versprechen schienen: nämlich eine modernisierte Variante von Faithfulls gefühlvollen Liedern in neuem zeitgemäßen Gewand zu präsentieren.
Zu den interessantesten Tracks auf der Platte gehört zweifelsohne der mit dem Eurythmics-Erfinder geschriebene "Song for Nico". In diesem wird die tragische Geschichte der deutschen Sängerin ohne viel Pathos nacherzählt, und die Textzeile "And now she doesn't know/What it is she wants/And where she wants to go/And will Delon be still a cunt./Yes, she's in the shit, though she is innocent." gehört sicher zu den herausragendsten, die Faithfull je gesungen hat.
Alles in allem ist "Kissin Time" wahrscheinlich eine schöne Platte. Was ihr jedoch fehlt, ist der Mut, den letzten Schritt in Richtung 21. Jahrhundert zu machen. Somit bleibt Faithfull auf halbem Wege stehen und reiht sich damit in die lange Liste der klanglichen Verjüngungsversuche ein, an denen vor ihr schon andere Künstler mehr oder weniger gescheitert sind, wie zum Beispiel David Bowie mit seinem eher dürftigen Longplayer "Earthling", der ein Versuch war, an die damals so populäre Drum & Bass-Szene anzuschließen.
Trotzdem ist es angebracht, Marianne Faithfull Hochachtung dafür auszusprechen, daß sie sich immer wieder neuen Strömungen zuwendet und nicht das Suzanne Vega-Syndrom erleidet, bei dem jede Platte auch nach 15 Jahren noch genauso klingt wie die allererste. Und ihre Stimme gehört sowieso zu den ausdrucksstärksten, die der anglo-amerikanische Popmarkt je hervorgebracht hat. Vielleicht geht sie mit der nächsten CD einen Schritt weiter, vielleicht macht sie aber auch wieder ganz was anderes, gespannt sind wir darauf in jedem Fall.