Kulturen- und Generationen-Klüfte

Das Verhältnis von Töchtern und Müttern ist generell ein kompliziertes. Noch schwieriger wird es, wenn zwischen ihnen kulturelle Unterschiede klaffen, wie zwischen der den Traditionen verhafteten Chinesin LuLing und ihrer in Amerika aufgewachsenen Tochter Ruth.

Ruth spricht nicht einmal ordentlich chinesisch. Sie lebt seit Jahren unverheiratet mit ihrem Freund Art in dessen Wohnung zusammen, benimmt sich aber, als wäre sie verheiratet – sie betreut seine Töchter aus erster Ehe und kümmert sich auch sonst um den Haushalt. Ruth arbeitet von zuhause – sie ist so etwas wie eine Ghostwriterin, für Titel wie "Die Spiritualität des Internets". Etwas, das ihre Mutter mit Geistern in Zusammenhang bringt - weil sie auch nach fünf Jahrzehnten nicht mit der englischen Sprache verwachsen ist. Schon als Kind hatte Ruth deshalb der verwitweten LuLing als Sprachrohr dienen müssen.

Erst als Ruth bemerkt, daß ihre Mutter mehr und mehr vergeßlich wird und sich selbst gefährdet, also offenbar Ruths pflegende Zuwendung braucht, wird ihr klar, daß etwas in ihrem Leben nicht ganz in Ordnung ist. Sie denkt über ihre Mutter nach, über ihre eigene schwierige Kindheit und Jugend mit einer aus China geflüchteten Frau, die immer noch Angst vor traditionellen "Flüchen" und der Macht der Geister hat - ganz im Gegensatz zu Ruths Tante GaoLing, die sich an das amerikanische Leben angepaßt hat und perfekt Englisch spricht. Oft hat Ruth ihrer Mutter große Vorwürfe gemacht. Beim Aufräumen ihrer Wohnung findet die Tochter nun eine Art Vermächtnis ihrer Mutter, eine Erzählung über die längst vergangenen Ereignisse in China, die für Ruth endlich Licht ins Dunkel ihrer Herkunft bringen.

Phasenweise ist das "Das Tuschezeichen" sprachlich etwas platt bzw. dürr - und etwas zu mainstreamig. Dicht und vielfärbig sind die Passagen über LuLing und ihre Erlebnisse in China - vom Dorf, aus dem sie stammt, dem Familienclan, der sich mit Tuscheherstellung beschäftigte, über die Kriegszeit und schließlich ihre Flucht nach Hongkong und dann Amerika, wo sie einen Amerikaner heiratete. Da läßt sich das Buch kaum aus der Hand legen. Sobald es um Ruth‘s Leben geht, wird es oberflächlich. Schade - denn das alltägliche Leben einer amerikanisch-chinesischen Frau in der Mitte ihres Lebens mit all ihren Gedanken, Sorgen und Hoffnungen hätte genauso interessant und mit derselben Abenteuerlust bearbeitet werden können wie die Spurensuche in China. Trotzdem ein in jedem Fall lesenswertes Buch.

Zur Zeit liegen noch keine Kommentare vor.



Über die Autorin:
Amy Tan wurde 1952 als Tochter chinesischer Auswanderer in Kalifornien geboren. Ihr Vater und ihr Bruder starben, als sie fünfzehn Jahre alt war. Ihre Mutter, Tochter einer wohlhabenden Familie in Shanghai, musste drei Töchter aus erster Ehe in China zurücklassen. Amy Tan gehört mit ihren Romanen "Die Frau des Feuergottes" und "Die Töchter des Himmels" zu den erfolgreichsten amerikanischen Schriftstellerinnen.