Umberto Ecos "Baudolino" entschwindet langsam aus den Bestsellerlisten, der italienische Semiotiker arbeitet sicherlich bereits an seinem nächsten Roman - und der EVOLVER bespricht die Schwarte erst jetzt. Woran es liegt? Die Lektüre ist ein harter Kampf gegen den inneren Schweinehund. Und vielleicht haben EVOLVER-Rezensenten ja den größeren Schweinehund - genetisch bedingt, versteht sich.
600 dichtbedruckte Seiten umfaßt Ecos neues Konvolut. Das alleine würde noch nicht viel besagen - man hat schon umfangreichere Bücher mit Wohlbehagen gelesen, die "Brüder Karamasow" beispielsweise. Leider ist Umberto Eco nicht Dostojewski, und leider hat die Schwabulierlust des "professore" in diesem Fall überhaupt ausgelassen: "Baudolino" ist weit entfernt von der Faszination absurder Spintisierereien, die die Vorgänger "Der Name der Rose" und "Das Foucaultsche Pendel" ausübten.
Beruflich beschäftigt sich Umberto Eco mit Bedeutungen und den verschiedenen Lesarten, die einem Geschehen, einem Symbol, einem Text entsprechen können. Kurz: mit dem Verhältnis von Fact und Fiction. Nachdem er in den Vorgängern die Geschichtsfälschungen von religiöser (ein Klostervorsteher läßt Aristoteles "Poetik der Komödie" im Schlund eines Bibliotheklabyrinths verschwinden) und geheimbündlerischer Seite (eine Gruppe von Logenbrüdern liest geschichtliche Vorgänge neu als Machinationen der sagenhaften Rosenkreuzer) bereits durchgespielt hat, wendet er sich diesmal einem eigentlich naheliegenden Stoff zu: einer Lügengeschichte in der Tradition des Schelmenromans, wie er sich im 16. Jahrhundert ausgehend von Spanien über ganz Europa ausbreitete.
Während sich manche der alten Texte tatsächlich vergnüglich lesen (empfohlen sei hier Christian Reuters "Schelmuffskys curiose und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Land", die bei Reclam erschienen ist), ist Ecos "Baudolino" alles andere als leichte Kost. Der Uni-Professor kann es leider nicht lassen, zu belehren. Waren die Exkurse über mittelalterliche Gartenpflege und dergleichen schon im "Namen der Rose" hartes Brot, so sind sie hier vollends fehl am Platz - zumal sie einem durch Lügen und Betrügen zu einer beachtlichen Karriere gelangtem Bauernsohn in den Mund gelegt werden.
Damit auch etwas über die Handlung gesagt ist: Im Mittelpunkt des Romans steht der schlaue Piemontese Baudolino, der in die Dienste Friedrich Barbarossas tritt. Die Gabe des Bauernjungen besteht im Grunde darin, mit solcher Unschuld zu lügen, dass nicht nur seine Umgebung, sondern auch er selbst die Lügen für Wahrheit hält. Sprachlich begabt und ohne eigentliche Identität füllt Baudolino jene Rollen aus, die ihm zugedacht werden. Ansonsten folgt "Baudolino" einem pikaresken Schema, d. h. die Hauptfigur zieht von Ort zu Ort und gerät in loser Folge von einem Abenteuer ins andere.
Inspiration zum Buch war ein historischer Fall von Geschichtsbetrug: ein gefälschter Brief des mythischen Priesterkönigs Johannes, der Friedrichs Großmachtsphantasien legitimieren sollte. Selbstverständlich ist nach dem Geschichtsbild Ecos Baudolino der Verfasser der berühmten Epistel. Und zugleich mitverantwortlich für unsere Sicht des Hochmittelalters, da er, um seine Memoiren niederzuschreiben, die Erstfassung der Chronik Ottos von Freising vom Pergament schabt. Beim neuerlichen Verfassen nun wurde dieser vom Kaiser aufgefordert, seine Taten zu verherrlichen. So kommt es, dass die ursprünglich pessimistische Haltung des Werkes revidiert wird. "Es könnte sein, dass letztlich, wenn ich die erste Chronica nicht abgeschabt hätte, Friedrich am Ende gar nicht all das getan hätte, was wir als seine Taten rühmen."
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