Sonny Liston

Stories_Sonny Liston: In memoriam
Im Schatten des Bären
Ein Vierteljahrhundert bevor Mike Tyson seine Gegnerschaft in Angst und Schrecken versetzte, dominierte Brachial-Puncher Sonny Liston, mit dem "Iron" Mike einst gern verglichen wurde, die Box-Schwergewichtsszene. Am 25. September jährt sich Sonnys Titelgewinn zum 50. Mal. Dietmar Wohlfart verneigt sich vor einem der furchteinflößendsten Boxchampions der Geschichte. 25.09.2012
Seine Regentschaft währte nur kurz: Vom 25. September 1962 bis zum 25. Februar 1964 hielt Charles "Sonny" Liston den Schwergewichtstitel. Mit der überraschenden Niederlage gegen das großmäulige Boxgenie Cassius Clay büßte Liston, der schon früh als gesellschaftlicher und sportlicher Unhold gebrandmarkt wurde, auch die Aura der Unbezwingbarkeit ein. Sein zweiter Fight gegen den dann als Muhammad Ali antretenden Neo-Champion endete in einem Skandal. Trotz ansprechender Resultate sollte Liston ein weiterer Kampf um die WM-Krone verwehrt bleiben. Seine lückenhafte Biographie, außergewöhnliche physische Attribute, Verbindungen zur Mafia und der bis heute ungeklärte frühe Tod dieses vielleicht finstersten aller Schwergewichtsweltmeister machten Sonny Liston zum Mysterium.
Urgewalt aus dem alten Süden
Sonny Listons wahres Geburtsdatum wird wahrscheinlich nie bekannt werden, ebenso wie sein genauer Geburtsort. Er wurde vermutlich zwischen 1928 und 1934 in Arkansas geboren. Listons Vater Tobe und dessen wesentlich jüngere zweite Gattin Helen Baskin hatten zum Zeitpunkt seiner Geburt bereits eine große Kinderschar, aus der sich Sonny Jahre später als mythenumrankte Boxlegende hervortun sollte. Vom gewalttätigen Tobe Liston schon im Kindesalter auf den Baumwollfeldern der Südstaaten gestählt, wuchs der Einzelgänger zu einem bulligen Finsterling heran, der bald mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Sein Hang zur Kriminalität brachte ihn ins Staatsgefängnis von Jefferson City, wo er die "Sweet Science" erlernte. Durch den Gefängnisgeistlichen Edward B. Schlattmann kam der junge Sonny 1950 erstmals mit dem Boxsport in Berührung. Bereits ein Jahr später demontierte er den zu dieser Zeit als besten Schwergewichtler von St. Louis geltenden Thurman Wilson in zwei Runden.
Nach seiner vorzeitigen Entlassung kümmerten sich Zeitungsmann Frank W. Mitchell und Monroe Harrison, der zuvor bereits Archie Moore trainiert hatte, um Listons Belange. Schon in den frühen 1950ern, nachdem er es zum nationalen und internationalen Golden-Gloves-Champion gebracht und dann 1953 sein Profidebüt gefeiert hatte, soll Liston unter die Kontrolle der Mafia geraten sein. Gangsterboß Frank Carbo aus New York und seine rechte Hand "Blinky" Palermo waren es, die die schmutzige Schattenwelt des Boxsports - und mit ihr Sonny Listons Schicksal - in jenen Tagen kontrollierten.
Freak of nature
Der Überlieferung zufolge waren die großen Hände das erste, was seiner Mutter an ihrem neugeborenen Sohn Charles aufgefallen war. Sonnys Körperlichkeit erstaunt noch heute. Im Ring rollte der Mann wie ein Tank über seine Gegner hinweg, die er zuvor schon mit seiner grimmigen Aura eingeschüchtert und mental oft bereits vor dem ersten Gongschlag gebrochen hatte. Ein Sonny Liston in Zahlen scheint gar in Widerspruch zu den physischen Gesetzmäßigkeiten zu stehen: Bei einer Körpergröße von 184 Zentimetern übertraf seine Reichweite (213 cm) selbst jene der turmhaften Klitschko-Brüder, die den "Big Bear" um 14 (Wladimir) bis 17 Zentimeter (Vitali) überragt hätten. Zudem ist sein bloßer Faustumfang der größte, der je bei einem Schwergewichts-Champ gemessen wurde. Viele seiner Gegner mögen dem Idealbild eines Musterathleten näher gekommen sein, doch Liston bediente sich eines gewaltigen Reichweitenvorteils, der fehlende Schnelligkeit mehr als wettmachte.
Der Zerstörer
Ausgestattet mit diesem abnormen Aktionsradius, beträchtlicher Schlagkraft in beiden überdimensionierten Fäusten und einem widerstandsfähigen Kinn, marschierte Sonny Liston in den 50er Jahren brutal durch seine Gegnerschaft und hinterließ dabei eine Schneise der Verwüstung. Allein mit seinem rammbockartigen Jab war er imstande, den Konkurrenten ernsthafte Verletzungen beizubringen. Als Liston später seine berüchtigten Kopf- und Körperhaken vollends entwickelt hatte und vernichtend einsetzte, festigte dies seinen Ruf als unüberwindlicher Gegner. Wer sich diesem Zerstörer im Ring dennoch entgegenstellte und gar auf einen offenen Schlagabtausch einließ, sollte dafür einen hohen Preis bezahlen: Der flinke Marty Marshall etwa, der Liston - der den Kampf mit einem gebrochenen Kiefer bestritt - die erste Niederlage seiner Profikarriere beigebracht hatte, bekam den Zorn des Bären in zwei weiteren Begegnungen zu spüren. Bert Whitehurst wurde von Liston 1958 durch die Seile aus dem Ring geschlagen; der deutschstämmige Willi Bessmanoff im Jahr darauf böse zugerichtet und mit multiplen Cut-Verletzungen verunstaltet. Für Leotis Martin, der Sonny 1969 eine letzte Niederlage zufügte, wurde sein Triumph zum Pyrrhussieg: Liston hatte ihm während des Gefechts derart zugesetzt, daß Martin seine Karriere aufgrund einer schweren Augenverletzung beenden mußte.
Charakter-Clash
Cus D´Amato, der spätere Trainer Mike Tysons, hatte seinen Schützling Floyd Patterson über Jahre hinweg vor Liston geschützt, indem er einen Kampf gegen den hart austeilenden Exsträfling vereitelte. Doch Sonny war von einem Sieg zum nächsten geeilt. Auf dem Weg zum offiziellen Herausforderer hatte er Pattersons restliche Opposition vollständig ausradiert.
Floyd Patterson war 1956 im Alter von 21 Jahren zum bis dahin jüngsten Schwergewichtsweltmeister geworden und sollte es 1960 zum ersten zweifachen Champ der Geschichte bringen, als er den Titel von Ingemar Johansson zurückeroberte. Patterson wurde als höflicher und zurückhaltender Mensch geschätzt. Im krassen Gegensatz dazu stand Sonny Liston, der allein zwischen 1953 und 1958 vierzehnmal verhaftet worden war. Liston galt als das personifizierte Böse, als analphabetischer Schläger und verurteilter Dieb ohne Moralvorstellungen. Hartnäckig hatte D´Amato versucht, einer Titelverteidigung mit Verweisen auf Listons fragwürdigen Lebenswandel und seine Verbindungen zum organisierten Verbrechen aus dem Weg zu gehen. Es schien fast so, als fürchte er die Gestalt aus der Dunkelheit, die nun im Begriff war, mit ihren gewaltigen Händen den Gürtel seines edelmütigen Schützlings an sich zu reißen und zu beschmutzen.
Das Unvermeidliche geschah dennoch - und zwar am 25. September 1962 in Chicago. Knapp 19.000 Zuschauer erlebten Floyd Pattersons schnelles, schmerzhaftes Ende als Weltmeister. Patterson, ein wendiger Kämpfer, der stets mutig den Infight suchte, um seine kurzen Haken ins Ziel zu bringen, wurde von seinem bulligen Herausforderer in etwas mehr als zwei Minuten vernichtend geschlagen. Gerade einmal 17 Sekunden länger dauerte der Rückkampf. Der tapfere, wenngleich berechenbare, vor allem aber körperlich hoffnungslos unterlegene Patterson besaß nicht den Hauch einer Chance, als er im Sommer 1963 gegen Liston unterging.
Kollision mit dem Größten
Durch die beiden klaren Siege über Floyd Patterson war es nun amtlich: Charles "Sonny" Liston war der stärkste Boxer des Planeten; eine einsilbige Kampfmaschine aus der Unterwelt, die auf gesellschaftliche Konventionen pfiff und innerhalb des Rings keine Gefangenen machte. Nach seinem erwarteten Titelgewinn stellten sich nicht wenige auf eine sehr lang währende Herrschaft Listons ein.
Den jungen Cassius Marcellus Clay, seines Zeichens Olympiasieger von 1960, kümmerte das herzlich wenig. Der unorthodox kämpfende Jüngling aus Kentucky war noch im Jahr seines Olympiatriumphs ins Profilager gewechselt, hatte bereits namhafte Opponenten wie Henry Cooper und Archie Moore bezwungen und war schließlich zum Herausforderer Listons aufgestiegen. Clay, ein leichtfüßiger Fighter mit den schnellsten Händen, die das Schwergewichtsboxen je gesehen hatte, galt bereits im Jugendalter als Meister der Selbstinszenierung. Übermotiviert und in unverschämter Manier fachte der Schnellredner das Interesse vor dem Kampf mit dem haushohen Favoriten an. Bereits der junge Clay polarisierte die Massen und stieß mit seiner provokanten Art Kritiker vor den Kopf. Seine Gegner sehnten einen möglichst brutalen, endgültigen Sieg des amtierenden Champions herbei, andere fürchteten um die Gesundheit Clays und rieten ihm von einem Kampf gegen den Champion ab.
Was sich am 25. Februar 1964 in Miami ereignete, sollte gleichermaßen als Kontroverse und Sensation in die Sportgeschichte eingehen. Der ständig tänzelnde Herausforderer punktete mit pfeilschnell abgeschossenen Jabs, die in hoher Frequenz in Listons Gesicht explodierten und dort bald deutliche Spuren hinterließen. Im Ring mit Clay wirkte der kräftige Liston plötzlich behäbig und unkoordiniert. Es war ihm nicht möglich, den jungenhaften Olympiasieger zu stellen. Clay wiederum schöpfte aus seiner überlegenen Faust- und Beinschnelligkeit und boxte Sonny konsequent aus. Als der frustriert und erschöpft wirkende Champion nach Ende der sechsten Runde geschlagen auf seinem Stuhl verharrte, geriet die Boxwelt schlagartig aus den Fugen. Cassius Clay, der als krasser Außenseiter in den Kampf mit Liston gezogen war, wurde im Alter von 22 Jahren zum neuen Weltmeister.
Jene, die hinter der Niederlage des als unschlagbar geltenden "Big Bear" ein abgekartetes Spiel vermuteten, erhielten 1965 neue Munition, als der Rückkampf nach weniger als zwei Minuten ein abruptes Ende fand. Der später als "Phantom Punch" bezeichnete, vermeintlich verdeckt und blitzschnell geschlagene Kopftreffer des jungen Champs, der sich nunmehr Muhammad Ali nannte, beendete das Gefecht vorzeitig. Liston wurde umgehend des Betrugs bezichtigt. Angesichts seiner bekannten jahrelangen mafiösen Verstrickungen hatten die Vorwürfe zwar ein nicht unbeträchtliches Gewicht, konnten jedoch nie bewiesen werden.
Die letzte Runde
Nach der Niederlage gegen Ali bestritt Sonny Liston zwischen 1966 und 1970 noch 16 Kämpfe, von denen er 15 gewann, 14 davon vorzeitig. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß die Schlagkraft einem Boxer auch im fortgeschrittenen Stadium seiner Karriere weitgehend erhalten bleibt. Liston, dessen wahres Alter Ende der 1960er auf über 40 Jahre geschätzt wurde, blieb auch in der letzten Phase seiner Laufbahn ein gefährlicher Gegner, der seine Rivalen nach wie vor frontal angriff und vor sich hertrieb. Medial war er jedoch aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit verdrängt worden; die Bühne gehörte nun Muhammad Ali, der die stärkste Generation der Schwergewichtsboxer spektakulär anführte.
Hätte Liston 1969 den Fight um den neuen NABF-Titel gegen Leotis Martin gewonnen, wäre er vermutlich wieder in die engere Auswahl der WM-Herausforderer aufgestiegen. Zuvor hatte die WBA (World Boxing Association) 1967 ein acht Mann umfassendes Ausscheidungsturnier um den vakanten Titel des exilierten Ali initiiert, aus dem Außenseiter Jimmy Ellis im Frühjahr 1968 als Sieger hervorgegangen war. Einen ursprünglichen Mittelgewichtler wie Ellis hätte Sonny Liston wohl zum Frühstück verspeist. Doch Leotis Martin - selbst ein Teilnehmer des WBA-Turniers, der sein Auftaktmatch gegen Ellis verloren hatte - überraschte Liston und beendete die Siegesserie des gefallenen Champs.
Sonny Listons letzter Kampf fand am 29. 6. 1970 in New Jersey statt. Es traf auf den hünenhaften Chuck Weppner, einen zu diesem Zeitpunkt aufstrebenden Puncher, der später als vermutete Inspirationsquelle für Sylvester Stallones "Rocky" Bekanntheit erlangen sollte. Das Duell verlief einseitig: Der gealterte Liston - nach wie vor mit einem harten, präzisen Jab ausgestattet - zerschlug das Gesicht des ohnehin für tiefe Cuts anfälligen "Bayonne Bleeder", der dem Martyrium blutüberströmt neun Runden lang standhielt.
Am 5. Jänner 1971 kehrte Sonnys Ehefrau vom Weihnachtsurlaub zurück und fand zu Hause den leblosen, aufgedunsenen Körper ihres Ehemanns vor. Als offizielle Todesursache wurde Herzversagen festgestellt, vermutet wurde aber eine Überdosis Heroin. Enge Vertraute haben die unterstellte Heroinsucht des eher zu übermäßigem Alkoholkonsum neigenden Boxers stets bestritten. Sie verwiesen unter anderem auf Listons kolportierte panische Angst vor Nadeln. So könnte der Mob ein letztes Mal eine Rolle in Sonnys Leben gespielt haben ...
Ein Liston auf der Höhe seiner Kunst wäre auch heute ein Titelaspirant und würde die seit Jahren marode Schwergewichtsszene vermutlich in ihren Grundfesten erschüttern. Flinke Techniker im Ring bereiteten Sonny stets Probleme, doch mit seinen Vorteilen an Schlagkraft und Reichweite gegenüber jedem Vertreter der derzeitigen Boxelite bräuchte Liston nichts und niemanden zu fürchten.
Er würde einschüchtern. Er würde marschieren. Und er würde zerstören.

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