Stories_Vorweihnacht

Engel

Man ist es nicht, aber man kann es werden. Wenn die Flügel sich ihren Weg bahnen, dann wird es auch manchmal schmerzhaft.
Eine Kurzgeschichte von Guido Rohm    06.12.2011

Mama schwebte.

Jetzt ist sie ist ein Engel. Im Himmel gibt es keine Grenzen. Nirgendwo kann man sich stoßen, man eckt nicht an.

Sie ist nun nicht mehr hier. Sie hat mich verlassen. Das ist nicht weiter schlimm, denn sie mußte es tun, weil es ihre Bestimmung war.

Das Schicksal diskutiert nicht mit uns. Es führt unaufhörlich Selbstgespräche.

Engel tönen vom Himmel hinab, nicht aber von der Erde ins Weltall hinauf.

Sie ist geflogen. Ihre Flügel trugen sie weit. Hinauf in den Himmel, unter eine Kuppel aus Sternen.

Sie hat ihre Flügel gebreitet, umschwärmt von zahllosen Sperlingen. Ihre Fußspitzen wiesen zur Erde hinab.

Ich habe es gesehen. Ich war dabei.

Ich kann Zeugnis davon ablegen.

 

Das alles habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Augen trügen nicht. Augen sind die Schlupflöcher der Wahrheit. Augen sind Baggerschaufeln. Sind Hände. Sie fassen die Welt. Zerren sie in den Kopf hinein.

Vom Kopf wandert die Welt in die Seele. Sie wandert nicht. Viel eher fällt sie. Sie stürzt sich in die Tiefe der Seele. Dort breitet sie sich aus. Bereitet Schmerzen, weil die Seele nicht dazu gemacht ist, so viel Welt aufzunehmen.

 

Die Seele erinnert an eine Seifenblase. Sie muß platzen, bersten, bei all den Eindrücken, all den Gesichtern, den Turmspitzen, den Flugzeugen, den Autos. Die Seele ist nicht für die Welt gemacht. Nicht für eine Welt in dieser Größenordnung. 

Und deshalb müssen wir Engel werden. Denn dann können wir unsere Flügel breiten und den Erdboden kleiner und kleiner werden lassen.

 

Engel wohnen im Himmel. Sie sitzen auf Wolken. Blicken auf die Welt hinab, die ihren Seelen nun nichts mehr anhaben kann. Die Welt ist auf eine Größe geschrumpft, die nun in eine Seele hineinpaßt. Endlich kann die Seele die Welt aufnehmen.

 

Ich habe eine Veränderung an meinem Rücken verspürt. Ein Ziehen. Ein Schmerz, der sich in den Nächten in den gesamten Körper ergießt. Der Schmerz gleicht einer Flutwelle, die mich unter sich begräbt. Ich muß diese Schmerzen ertragen. Sie sind ein Bote. Ein Vorzeichen. Sie bereiten mich auf mich vor. Ich werde zu einem Engel, so wie Mutter zu einem Engel wurde. Sie hat es mir gesagt. Sie hat mich darauf vorbereitet. Dies alles kommt nicht überraschend.

 

Bei Mutter kündigte sich die Engelwerdung ebenso an.

Damals wußte sie noch nichts von ihrem Glück. Vater und Mutter gingen von Arzt zu Arzt, weil sie sich die Veränderungen nicht erklären konnten.

Vaters Gesicht wurde ernster. Er wollte nicht, daß sie ein Engel wurde. Oft stand er am Fenster und blickte in den Himmel hinauf. Er suchte ihn ab.

Er spürte, was kommen würde. Er verabschiedete sich bereits von ihr. Sah zu den Wolken hinauf. Überlegte, auf welcher Wolke Mutter wohl bald Platz nehmen würde.

 

Manchmal schien er zornig über ihren Entschluß zu sein. Er wollte sie nicht als Engel, er wollte sie als Frau. Die Frau aber verging unter seinen Blicken. Sie wandelte sich. Tag für Tag.

Das Wachsen der Flügel ließ sie schreien. Ich hörte es. Verkorkte meine Ohren mit den Zeigefingern, weil die Gesänge von Engeln nicht für Menschenohren bestimmt sind.

 

Geisterhaft winkte ihre Hand mich zu sich. Mein Ohr mußte Teil ihre Mundes werden. Mein Ohr versank in ihrem Atem. Mein Ohr tauchte in ihre Engelwelt ein.

Sie erklärte mir alles. Sie klärte mich auf. Mütter sprechen über die Veränderungen des Körpers. Irgendwann. Heute war mein Gespräch.

Sie müsse bald gehen, erklärte sie mir.

Wohin? frage ich.

Hinauf zu den Engeln, keuchte sie.

Das reichte mir, um mich lächeln zu lassen.

In der Trübe des Zimmers angelte mein Blick nach ihrem Gesicht. Ihr Antlitz wirkte zerfurcht. Als hätte ein Wind es aufgescheucht. Sie wirkte wie jemand, der sich auf der Flucht befindet.

Sie ist nicht auf der Flucht, dachte ich dann. Sie bereitet sich vor.

Ein letztes Mal wollte ich sie an Bord meiner Erinnerung ziehen. Ihr Gesicht sollte mein Fang sein, damit mir etwas blieb, wenn sie gegangen war.

Bald darauf flog sie davon.      

 

Als Mutter schließlich die Erde verließ, schloß sich Vater ein. Erst im Badezimmer. Dann in seinem Kopf. Die Tür zum Bad konnten sie öffnen, das Tor zu seinem Kopf blieb verschlossen. Er kroch in seinen eigenen Kopf hinein. Wie ein kleines Kind in seine Höhle aus Decken. Dort blieb er. Er verkapselte sich. Der Kopf wurde sein neues Zuhause.

 

So stellte ich mir seine Abwesenheit vor: Er saß auf einer Bank und sah in den Himmel hinauf. Von dieser Bank im Kopf konnte er sie sehen. Jedes Äderchen in Mutters Gesicht konnte er mit seinen Augen berühren. Sie lachte ihn an. Rief ihn zu sich.

Aber Vater folgte nicht, sondern blieb auf seiner Bank sitzen, bis sie ihn samt Bank in ein Pflegeheim verfrachteten. Er reagierte auf nichts. Er hatte keine Zeit. Auch nicht für mich. Er saß nur da und starrte zu Mama hinauf, die ihn selig anlächelte und in ihre Seele treten ließ.

 

Ich stehe vor mir. Ich konfrontiere mich mit meinem Selbst. Drehe meinen Rücken in Richtung des Spiegels, der mir meine Flügel nicht zeigen will.

Spiegel sind Lügner. Auf sie ist kein Verlaß. Sie zeigen uns nur die Zeit, nicht aber die Seele.

Mutter war es, die mich auf meine Rolle einschwor, die mir erklärte, Abend für Abend, ich sei ein Engel. Sie zog die Bettdecke unter mein Kinn, bis ich ganz Kopf mit Ohren war. Ich lauschte ihren Worten. Die Worte flogen wie kleine Vögel in meinen Kopf. Dort piepsten sie aufgeregt und versprachen mir eine schöne Zeit.

Die Vögel haben nicht gelogen. Sie fliegen voran. Ihnen werde ich folgen. Sperlinge. Ich glaube, daß es Sperlinge sind.

 

Mutter verließ die Dielenbretter des Dachbodens. Sie schwebte über dem knirschenden Holz. Ich sah es nur kurz. Dann zerrte Vater mich aus dem Abflugbereich.

Man muß hoch steigen, dann ist man dem Himmel schon ein wenig näher. Ich sah ihren Flug. Ihren Start.

Sie erinnerte an ein Flugzeug. Eher noch an eine Rakete. (Gar nicht unbedingt an einen Engel, höchstens einen sehr traurigen). Sie sah zu ihren Füßen hinab. Der Kopf lag schräg.

 

Fliegen muß doch anstrengend sein, dachte ich noch.

Vater zog mich die Treppe hinab. Ich sagte nichts. Ich war zu überrascht. Am Ende der Treppe aber lächelte ich.

Jetzt ist Mama ein Engel und fliegt in den Himmel hinauf, sagte ich.

Vater erwiderte nichts. Erwachsene können grausam sein. Er stürmte die Treppe nach oben. Betrat den Dachboden. Wohnte ihrer Himmelfahrt bei.

Das ist gemein, dachte ich. So gemein. Warum darf er es sehen?  

 

Die Schmerzen werden heftiger. Sie wandern über den Rücken. Sie diktieren meinen Tag, der mich im Bett liegend ertragen muß. Freunde habe ich nicht. Einen Arzt muß ich nicht aufsuchen, denn Ärzte verstehen nichts von Engeln. Sie wissen nichts von Seelen. Ich könnte einen Priester bestellen, aber was könnte er mir sagen, was ich nicht schon längst weiß.

Ich trage Flügel aus.

 

Ich werde in eine Wolke fallen. Wolken sind weich. Sie sind wie Betten. Der Wolkenbezug wirkt stets wie frisch gewaschen. Auf einer Wolke kann einem nichts geschehen. In Wolken kann man fallen. Man wird nicht stürzen. Die Wolken fangen uns Engel.

 

Mutter wird überrascht sein, wenn sie mich erblickt. Sie wird  meinen Namen ausrufen. Ich werde nicken. Werde lächeln, werde sagen, da bin ich, dein Engel.

Sie wird mich an die Hand nehmen und sagen, endlich, ich habe schon auf dich gewartet.

Wir werden zu Vater hinunter blicken, der, so hoffe ich, noch auf seiner Bank sitzt.

Wir werden all die kleinen Häuser und Autos, all die Miniaturausgaben der Städte in unsere Seelen strömen lassen.

Bald wird auch Vater folgen. Dann sind wir wieder vereint, eine echte Familie, nur glücklicher als all die Familien dort unten.

 

Der Schmerz übermannt mich. Er drückt mich wie ein Angreifer unter sich. Er schlägt mich. Wuchtet mir seine Faust in den Magen. Raubt mir die Luft zum Atmen. Der Schmerz will mich erlegen. Hier. Sofort. Als wäre ich ein wildes Tier. Engelgeburten lassen leiden.

Ich muß auf den Dachboden. Ich verkralle mich im Teppich. Ich werde es nicht schaffen. Ich will es. Will es doch so sehr.

 

Der Schmerz hat von mir abgelassen. Ist abgesprungen wie von einem fahrenden Zug.

Licht blendet mich. Ich suche in der Sonne nach einem Hinweis. Ruhe. Völlige Ruhe. Eine engelhafte Ruhe.

Und dann, ich kann es kaum glauben, spüre ich es. All mein Warten wird belohnt.

Ich stehe in einem Meer aus Licht. Ich breite meine Flügel. Wunderschöne große Flügel.

Eine Stimme tritt an mein Ohr. Die Stimme gehört nicht zu Mutter.

Wir haben sie, sagt die Stimme.

Ja, entgegne ich und schwebe langsam empor.

Guido Rohm

Guido Rohm


wurde 1970 in Fulda geboren, wo er heute auch lebt und arbeitet. Sein Debüt, der Kurzgeschichtenband "Keine Spuren" (mit einem Vorwort von Georges-Arthur Goldschmidt) kam 2009 heraus, ein Jahr später der Krimi "Blut ist ein Fluss". 2012 wird EVOLVER BOOKS sein neues Werk veröffentlichen.

 

Sein aktueller Roman "Blutschneise" ist heuer im Verlag Seeling erschienen:

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