William McIlvanney - Laidlaw
Verlag Antje Kunstmann (D 2014)
Es geschehen doch noch Zeiten und Wunder. Der Verlag Antje Kunstmann traut sich über eine Neuauflage von William McIlvanneys Brit-Noir- bzw. Tartan-Noir-Klassiker "Laidlaw". Grund genug für Martin Compart, den brillanten Schotten und das Engagement des Verlags zu würdigen. 31.10.2014
Britische Kritiker nennen ihn "die Stimme des heutigen Schottland". Angesichts der traditionell vielen, großartigen Erzähler und Dichter, die dieses Land immer wieder hervorbringt, kein geringes Kompliment. Wahrscheinlich bezieht sich der Ehrentitel auch auf die vielen unterschiedlichen Genres, in denen es William McIlvanney zur Meisterschaft brachte. Er hat als Lyriker, Kurzgeschichtenautor, Romancier und Noir-Schriftsteller höchste Anerkennung gefunden. Dem Regionalisten ist besonders die Stadt Glasgow (mit dem Photographen Oscar Marzaroli hat er den wunderbaren Band "Glasgow 1956-1989: Shades Of Grey ... And Some Light Too" herausgebracht) eine nicht versiegende Quelle seiner Inspiration. Daß er besonders in seinen Noir-Romanen das genaue Bild dieser Stadt zeichnet, liegt in der Natur des Genres: die Noir-Literatur, die auf Poe, Beaudelaire, Fielding und Defoe zurückgeht, hat wie kein anderes Genre die Schrecken und Faszination des urbanen Lebens thematisiert.
McIlvanney wurde am 25. November 1936 in Kilmarnock, Ayrshire in Schottland geboren. Er studierte an der Universität von Glasgow und schloß 1959 mit einem Master of Arts mit Auszeichnung ab. 1961 heiratete er Moira Watson, mit der er einen Sohn und eine Tochter hat. 1982 ließen sie sich scheiden. 1970 ging er als Englischlehrer für ein Jahr nach Grenoble und unterrichtete anschließend an verschiedenen Schulen und Universitäten in Schottland. Neben seiner Tätigkeit als Dozent schrieb er Romane und Gedichte. Sein erster Roman, Remedy Is None, erhielt den Faber Memorial Preis. Sein zweiter, A Gift From Nessus, wurde mit dem Scottish Arts Council Award ausgezeichnet und sein dritter Mainstream-Roman, Docherty, erhielt den Whitbread Award. Für Laidlaw wurde er mit dem Silver Dagger der britischen Crime Writers Association ausgezeichnet (ebenso für The Papers Of Tony Veitch). Seine Lyrik erhielt ebenfalls zahlreiche Auszeichnungen.
William McIlvanney begann erst 1977 Kriminalliteratur zu schreiben und hat bisher lediglich vier Romane um den Glasgower Kriminalbeamten Jack Laidlaw vorgelegt (wobei Laidlaw in The Big Man nur eine periphere Rolle spielt). Seine stilistische Brillanz, sein Gespür für Charaktere und Atmosphäre sowie die moralische Dimension seiner Kriminalromane, die weit über den Standards des Genres liegen, haben ihm nicht nur Vergleiche mit Chandler und Ross Macdonald eingebracht, sondern ihn auch zum Geheimtip als einem der besten lebenden Kriminalliteraten werden lassen. Allein seine geringe Produktivität im Genre hat ihn nach Ansicht der Spezialisten daran gehindert, als führender britischer Autor des Genres weltweit Anerkennung und Bestsellererfolg einzuheimsen.
Es gibt wenige zeitgenössische Noir-Autoren, die ihr Material so vielschichtig anlegen und so souverän handhaben. Heute kann man von einer neuen Welle von britischen Polizeiromanen sprechen. Es sind keine reinen police procedurals, wie sie die amerikanischen Vettern schreiben, sondern eine Mischform aus britischen Traditionen und amerikanischen Anregungen. Im Mittelpunkt stehen immer ein oder zwei Kriminalbeamte, wie zum Beispiel John Harveys Resnick, Ian Rankins Rebus, Bill James´ Harpur oder Frank Palmers Jacko. Die Autoren nehmen sich viel Raum, um ihre Persönlichkeiten zu beschreiben und haarklein vor dem Leser auszubreiten. Meistens machen diese Charaktere von Buch zu Buch Entwicklungen durch, die für den Leser von großem Reiz sind und ihn an die Serie binden. Auch die Polizeiarbeit wird genau und realistisch geschildert, aber anders als im police procedural ist sie im britischen Polizeiroman nicht der alleinige Motor, der zur Aufklärung des Verbrechens führt. Bei der Lösung des Problems und dem Engagement der Protagonisten klingt etwas von der Tradition der klassischen Polizeidetektivromane von A. E. W. Mason oder Freeman Wills Crofts nach. Zugegeben: nur wenig, da deren Rätselfixierung und Pappcharaktere die New Wave des britischen Polizeiromans eher abstoßen. Einflußreicher war der Autor Maurice Procter, der in den 50er Jahren, inspiriert durch die amerikanischen police procedurals, den echten britischen Polizeiroman begründete, indem er die Traditionen des britischen Polizeidetektivs (wie Crofts Inspector French) mit den neuen, von Lawrence Treat, Ed McBain oder Jack Webbs TV-Serie "Dragnet" entwickelten Perspektiven verschmolz.
Eine besondere Position kommt dem 1921 in Leeds geborenen Expolizisten John William Wainwright zu. Gemeinhin gilt er seit seinem ersten Buch, das 1965 erschien, als einer der herausragenden Autoren des britischen Polizeiromans. Im Gegensatz zu den amerikanischen police procedural-Autoren und Wainwrights Lieblingsautor Ed McBain behandelt er in seinen Polizeiromanen immer nur einen einzigen Fall. Bemerkenswert ist auch die frühe Betonung des organisierten Verbrechens. Seine Helden stehen in ihren Extremsituationen den schwarzen Thrillern näher als den sonst üblichen, durchschnittlichen Polizeiheroen. Beispielsweise scheut einer seiner Serienhelden - ein Anhänger der Todesstrafe - nicht davor zurück, einen jugendlichen Mörder sofort hinzurichten.
Die Methoden der Polizei und die der Gangster sind bei Wainwright fast identisch. Er treibt die erstmals bei John Bingham auftauchende Negativdarstellung der britischen Polizei weiter. Das scheint angesichts der beruflichen Vergangenheit des Autors noch beängstigender. Seine überzeugendste Leistung im Schwarzen Roman war seine Tetralogie um den Expolizisten Davis, der die Fronten wechselt. Stilistisch überzeugend zeigt Wainwright Intimes aus der Unterwelt und Charaktere, die der Leser so schnell nicht vergißt.
Es gab jedenfalls schon einige Traditionen, an die McIlvanney anknüpfen konnte - wenngleich auch mit höheren Ansprüchen. Die Identität des Mörders ist in "Laidlaw" von Anfang an bekannt: Tommy hat ein junges Mädchen ermordet, weil der Versuch, seine sexuelle Identität gegen Vorwürfe der Homosexualität zu beweisen, kläglich scheiterte. Verschiedene Gruppen jagen den Mörder, der viel von einem Opfer hat, aus unterschiedlichen Gründen, darunter auch der Vater des Opfers, ein handfester Proletarier, der Rache will. Für Inspector Laidlaw von der Polizei in Glasgow gibt es keine vorprogrammierten Schurken. Gegen den Widerstand der Glasgower Racheengel muß er Tommy schleunigst finden, um ihn der irdischen Gerechtigkeit zu überliefern und vor der Lynchjustiz zu retten. Der Roman zieht einen Großteil seiner Spannung aus den philosophischen und moralischen Fragen, die im Zusammenhang mit der Mörderjagd entstehen. Damit macht er sich grundsätzliche Gedanken über unseren zivilisatorischen Stand und dessen schleichende Degeneration. In seinem Buch "Crime & Mystery: The 100 Best Books" (London: Xanadu, 1987) schrieb H. R. F. Keating über "Laidlaw":
"Der Roman wurde von einem Dichter geschrieben. Es gibt Passagen, die diese edelsteinharte Konzentration von wahrer Poesie haben."
Keating wies darauf hin, daß man den Roman auf mehreren Ebenen lesen kann - darunter auch als eine Studie über die "Philosophie der Exekutivkräfte". Diese bildet sich in der durch den Roman ziehenden Diskussion zwischen Laidlaw und Milligan heraus. Für Milligan sind Gesetzesbrecher eine andere Spezies, mit der er und seinesgleichen keine Gemeinsamkeiten haben und gegen die er Krieg führen muß. Der grüblerische Laidlaw hingegen entläßt die Gesellschaft nicht aus der Verantwortung für Inhumanität und abweichendes Verhalten. Laidlaws ungewöhnliche Qualität ist seine Fähigkeit zum Mitfühlen. Fast Christus ähnlich, sieht er das Böse in der Welt als Verstoß gegen die Nächstenliebe: "Es gibt keine Feen, keine Monster, nur Menschen."
Diese aufklärerische Position scheint im aktuellen Noir-Roman immer mehr aufgegeben zu werden, zugunsten von Dämonisierung abweichenden Verhaltens. Laidlaw und Milligan kämpfen mit ihren unterschiedlichen Überzeugungen um die Seele des jungen Polizisten Harkness und versuchen ihn von ihren jeweiligen Positionen zu überzeugen.
Vor allem ist das Buch aber ein Roman über die Stadt Glasgow - eine sterbende Stadt, die bei aller genauen Detailschilderung eine Metapher für unsere Zivilisation ist, ähnlich wie Kalifornien im Werk von Ross Macdonald. Laidlaw ist mit seinen harten Seiten ein Sohn Glasgows, das eine der brutalsten Städte der westlichen Welt ist. McIlvanney ist nicht der erste Kriminalliterat, den diese Stadt so fasziniert, daß er sie zum Handlungsort seiner Romane macht: Seit 1957 schreibt Bill Knox seine Serie über die Detektive Colin Thane und Phil Moss vom Glasgower CID. The Dark Number, der einzige Roman des besten Kriminalhörspielautors der Welt, Edward Boyd, spielt ebenfalls in Glasgow. 1981 begann Peter Turnbull mit seiner Serie über die P-Division, ein fiktives Polizeirevier im Zentrum von Glasgow.
Als Ergänzung zu Reiseführern und als beste Unterhaltungsliteratur sind alle diese Romane vortrefflich, aber an McIlvanney kommen sie nicht heran. So wie man Russell James als Godfather des neuen britischen Gangsterromans nennt, könnte man McIlvanney als Paten der neuen Welle britischer Polizeiromane bezeichnen. Ob John Harvey oder Ian Rankin: Die besseren Autoren dieses Genres verdanken McIlvanney einiges, da er die Genregrenzen aufgebrochen und neu abgesteckt hat. Man könnte sich noir ärgern, daß der Mann so wenig schreibt! Aber das ist wohl der Preis für die hohe Qualität seiner außergewöhnlichen Bücher.
Der Verlag Antje Kunstmann versucht sich nach den beiden George-V.-Higgins-Bänden jetzt mit William McIlvanneys "Laidlaw" erneut an der Herausgabe eines Noir-Klassikers. Es handelt sich dabei um die mittlerweile dritte deutsche Veröffentlichung dieses Werks und ist meines Erachtens ein verlegerisches Risiko. Angesichts der vielen noch nicht ins Deutsche übersetzten Noir-Klassiker ergibt es aus meiner Perspektive wenig Sinn, diesen Roman ein weiteres Mal aufzulegen. Andererseits wäre es erfreulich, wenn dies nur der Startschuß für eine deutsche Ausgabe der "Laidlaw"-Serie wäre. Da man bisher nur vier Bände dazu zählen kann (ich rechne auch "The Big Man" dazu), sollte das zu stemmen sein - trotz des allgemein geringen Interesses an qualitativ hochwertiger Literatur.
So oder so ist dieses schöne Hardcover eine Zierde für jedes Noir-Buchregal. Und wer den Roman nicht kennt, sollte ihn sich in dieser Ausgabe besorgen - schon um das Engagement des Verlags zu würdigen.
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