Photos © Marianne Jungmaier

Stories_Wien-Triest: Der Weg in den Süden
Poesie der Peripherie
Komprimierte Geschichte: Marianne Jungmaier hatte nur ein Winterwochenende Zeit, die historische Strecke entlang der alten Triesterstraße zu erkunden. Was sie dabei erlebt - und gesehen - hat, erfahren Sie in ihrem EVOLVER-exklusiven Reisebericht. 08.04.2009
Vor mir eine schmucklose Fassade, ein schlichter Schriftzug: Hotel Triest. Das Gewölbe des Designerhotels im vierten Wiener Gemeindebezirk war einst ein Pferdestall, Unterkunft der Postkutschen für Reisende in südliche Gefilde. Vor einhundert Jahren brauchte man mit einer Postkutsche gute drei Wochen von Wien nach Triest. Die alte Handelsroute der Monarchie, die Triesterstraße, verband die Donaumetropole mit dem einzigen Seehafen Österreich-Ungarns.
Es ist Samstagmorgen, Anfang Dezember. Die Route nach Triest führt von Wien über den Semmering, Graz, Maribor und Ljubljana - in zwei Tagen an der Adria sein. Mein Reiseführer und historischer Guide heißt "Hendschels Luginsland" und dokumentiert eine Bahnfahrt von Wien nach Triest im Jahre 1911, der ich auf den Straßen quer durch die Kronländer des Habsburger Reiches nachspüren werde.
Wien. Über schiefergrauen Wolken, die wie Bettzeug geschlichtet am Horizont lagern, erhellt eine blasse Sonne den Tag. Der erste Halt ist eine Tankstelle, die Triesterstraße 1. "Allmählich entgleitet das schöne Stadtbild dem Blick, in mehrfachen Reihen nebeneinander stehen Lastzüge und hindern jede Ausschau, während wir Matzleinsdorf, den Wiener Frachtenbahnhof der Südbahn, durchfahren", schrieb Hans Biendl in "Hendschels Luginsland". Dieses Dorf ist heute der Matzleinsdorfer Platz, ein stark befahrener Verkehrsknoten inmitten der Stadt. Der unaufhörliche Wind macht klamme Finger und Ohren. Ich schieße eilige Fotos und tauche wieder in die blecherne Kolonne ein.
500 Meter weiter der erste und letzte historische Wegweiser, an dem ich halte. Die Spinnerin am Kreuz wächst verschwindend klein neben dem blitzblauen Gebäude eines Gebrauchtwagenhändlers in den Himmel. Den Abgasen preisgegeben, zerfällt der Sandstein Brocken für Brocken. Der sagenumwobene Tabernakelpfeiler steht symptomatisch für meine gesamte Expedition: Zwischen den in Wien, Graz, Maribor und Ljubljana wiederkehrenden Einkaufszentren, Gebrauchtwagenhändlern, Erotik-Shops und Möbelketten suche ich die Nadel im Heuhaufen, sichtbare Überbleibsel aus einer Zeit, in der die Triesterstraße noch Grandezza und Bedeutung hatte.
Ein letztes Aufflackern dieses Ruhms gab es in der Mitte des 20. Jahrhunderts: Zwischen 1950 und 1970 symbolisierte sie Unabhängigkeit, vor allem für die Wiener. Die alte B17 führte von Wien über den Semmering und Leoben hinab nach Kärnten an die Adria, schon seinerzeit das liebste Planschbecken der Österreicher. Überreste der alten B17 tauchen in lokalen slowenischen und italienischen Orten noch heute als Triesterstraße auf.
Wiener Becken. Zu Beginn des Tages bin ich noch hungrig auf sämtliche Straßenschilder und halte alle paar Kilometer an. Nach und nach werden die Gebäude kleiner, zwischen ihnen breiten sich Wiesen und Felder aus. Am Horizont erheben sich braun- und grünflächig Weinberge. Mit 80 Stundenkilometern jage ich jetzt über das Land. Ab und zu tauchen isoliert stehende Gebäude auf, Nachtklubs, Bars und zerfallene Diskotheken. An einer dieser Kultstätten der Trostlosigkeit halte ich an. Rückseitig spannt sich ein Baldachin, darunter Biertische. Ein Mann im militärgrünen Ganzkörperskianzug scheint mit dem Gebüsch am Rande des Grundstücks zu verschmelzen. Er zeigt mir die Überreste seines wöchentlichen Flohmarkts, mitten im Nirgendwo. Im Rückspiegel wird die zerfledderte Barbiepuppen-Kette kleiner, die er an seinem Baldachin befestigt hat.
Wiener Neustadt. Drei Stunden habe ich gebraucht für gute 50 Kilometer. Langsam drängt die Zeit, da die Sonne an Kraft verliert. Inmitten der Stadt taucht zu meiner Linken ein weißes, burgähnliches Gebäude auf: die von Kaiserin Maria Theresia gegründete Militär-Akademie, in der auch heute noch Offiziere ausgebildet werden. Die Bundesstraße geleitet mich wieder hinaus in die Vororte, wo Nadelbäume das Steinfeld dunkel begrünen. "Lange eintönige Schwarzföhrenwälder schließen nun den Bahnkörper ein, und wo ihre schnurgerade angepflanzten Reihen eine ebenso geradlinige Unterbrechung aufweisen, sehen wir, daß die Berge näher rücken, daß ihre Gestalten höher und steiler geworden sind." Der Wald an der Neunkirchner Allee wurde unter Maria Theresia angepflanzt. Ende des 18. Jahrhunderts begann man dort mit der ersten Landvermessung Österreich-Ungarns.
Schottwien am Semmering. Hans Biendl erzählt: "1828. Hochbepackte Frachtwagen, die Maschinen über den Semmering nach Triest zu bringen hatten, heischten den Durchzug." Ich blicke hinauf zur massiven Brücke der Semmering-Schnellstraße. Von der reichen Geschichte des verschlafenen Dorfes, das eingeklemmt zwischen nackten Steinwänden liegt, sieht man wenig. Einst war es eine wichtige Transitstation, von der noch die wie ein Herrenhaus anmutende, dottergelbe Poststation zeugt. Ich kurve die Serpentinen hinauf. In der Habsburger-Monarchie war der Semmering die Festwiese der Reichen und Schönen. Berühmt für "die großen Hotels, Kurhäuser und die Kolonie von schmucken Villen" gab es "auf dem Weg dahin den Reiz der parkartigen Landschaft". Der Wandel der Zeit weht mir mit einer schneeigen Bö ins Gesicht, von Glanz und Glorie sehe ich wenig. Jemand bietet ein kleines Häuschen an der Straße um schlappe 38.000 Euro zum Verkauf an. Der Kurort verbirgt sich schemenhaft in Nebelschleiern, die Hotels unsichtbar hinter schmutzigen Schneebergen.
Mürz- und Murtal. Das schlechte Wetter hält an und verstärkt die Schatten der einfallenden Dämmerung. Das Tal ist eine von hohen Bergen umschlossene, "enge dichtbewaldete Furche", in der die Flüsse Mur und Mürz rauschen; Heimat von Stahl- und Eisenindustrie, die bis zur großen Stahlkrise Mitte der achtziger Jahre die wirtschaftliche Situation der Steiermark prägte. Vor 100 Jahren erzählte man stolz davon: "Da stehen weitgedehnte Industrieanlagen, riesige Essen rauchen, und tausende fleißige Hände regen sich." Zwischen Nadelbäumen, entlang der braunen Fluten des Flusses, tauchen Lagerhallen und Fabriksgebäude auf. Dampfende car washes leuchten mir den Weg. Ich gebe der Strecke, von Mürzzuschlag bis Bruck, den Namen "Ungegend" und mache mich in Richtung Graz davon.
Graz. Ich übernachte in einem einfachen Hotel, leise rattert mich eine Straßenbahn in den Schlaf.
Ein grauer Morgen dämmert beim Fenster herein. Mannshohe Buchstaben eskortieren mich: "Baumax, Triesterstrasse 488". Auf vier und dann sechs Spuren rauscht der Verkehr. "Ein weites, fruchtbares Feld dehnt sich vor den Blicken, wenn unser Zug den Grazer Südbahnhof verlassen hat, wenn die Arkadengänge des neuen Friedhofes zur Rechten, das düstere Gefängnis und die Landesirrenanstalt Feldhof zur Linken vorübergeglitten sind." Das fruchtbare Feld ist jetzt eine Konsumwüste und bei der Wahl zwischen Kriminellen, "Irren" und Toten fällt eine schnelle Entscheidung für letztere. Der Grazer Zentralfriedhof ist ein Labyrinth für den Unkundigen und bezaubert mit kunstvollen Grabsteinen, von steirischen Bildhauern geschaffen.
Südsteiermark. Der Überfluß an Bildern in den vergangenen 24 Stunden macht stumm: soviel zu sehen, das nicht eingeordnet werden kann. Wieder das Gefühl, dem Zeitplan hinterherzulaufen. Ich halte nicht an, um mich mit den Menschen in den Vorgärten zu unterhalten. Es bräuchte drei Wochen, um das alles zu erfassen. Ich presche durch Gralla und Leibnitz, Heimat von Bombenbauer Franz Fuchs und Tennisspieler Thomas Muster. Bei Straß, eine Stunde nach Graz, steht ein Panzer neben der Straße. Das dezente blaue Schild an der Einfahrt besagt: KFOR Versorgungslager. Einfahrt verboten. Die Grenze ist da. Nach Spielfeld taucht sie unvermittelt auf. Die verlassenen Posten haben all ihre einstige Macht eingebüßt, ähneln seit der Grenzöffnung einfachen Bushaltestellen.
Slowenien. Der Uhrzeiger hat die zwölf schon überschritten. Es ist draußen wie drinnen merklich wärmer geworden. Slovenija, unabhängiger Staat seit 1991. Mitte des 13. Jahrhunderts weiteten die Habsburger das Gebiet ihrer Macht aus und okkupierten etwa 550 Jahre lang große Teile Sloweniens. Noch heute gibt es Regionen, die die Namen der einstigen Kronländer tragen: Krain, Kranjska, oder Untersteiermark, Spodnja Stajerska.
Wenige Menschen sind unterwegs. Leicht abfallend bahnt sich die kurvige Straße ihren Weg. Sanfte Hügelkuppen, auf denen Kühe und Schafe grasen. Die Strommasten sehen aus, als hätte man sie aus ihrem Baum-Dasein geholt und wahllos in die Gegend gesteckt. Ich erreiche die Ausläufer von Maribor. "Weingärten umkränzen die nun ins Drautal hinabsinkende Strecke und die Rebengelände begleiten unsere Fahrt bis an die Tore von Marburg, dem Hauptplatze des Wein- und Obsthandels der Steiermark." Die Lagerhallen und Firmengebäude zu Seiten der Straße verwachsen mehr und mehr, bis sie mit sechs Spuren erstmals an Wohnsilos vorbeiführt.
Maribor. Zum ersten Mal versagt das Navigationsgerät, führt mitten hinein in einen Altstadtbezirk. Ein Glück, der kurze Blick auf das wirkliche Maribor; baufällige, doch anmutige Häuser und Männer, die rauchend durch die Straße schlendern. Nach Maribor verläuft die Trzaska Czesta, Triesterstraße, parallel zur Schnellstraße; über die Hügel, die von oben wie italienische Profiteroles aussehen, runde Brandteigkrapfen in Schokosauce. Ich entdecke kleine Orte, deren deutscher Name noch bekannt ist, wie Slovenske Konjice, das einstige Gonobitz oder auch Celje, alt Cilli.
Ljubljana. Bereits vor einhundert Jahren war Ljubljana eine Hauptstadt, allerdings unter einer anderen Flagge: "Laibach (Ljubljana), die Hauptstadt des Kronlandes Krain." Am Beginn der Trzaska Czesta halte ich an, um mich umzusehen. Die Sonne taucht langsam ein in ihre goldene Stunde. Wenn ich Triest noch sehen will, muß ich die Autobahn nehmen. Ich verschiebe also das Essen in Ljubljana. Zu Seiten der Autobahn unbekannte Dörfer, ab und an fängt man ein Bild der weiten Ebene ein, mit kleinen pittoresken Seen. "Nun geht die Fahrt ins weite Laibacher Moor hinaus - in grauer Vorzeit ein Seebecken, an dessen Ufern Pfahlbauern ihr Leben fristeten."
Nahezu unbemerkt die Einfahrt in Italien. Die Häuser sind nun flacher gebaut, in den Gärten wachsen Palmen. Ich verliere die Triesterstraße in einem Vorort von Triest, Villa Opicina, wo sie abrupt endet. Dieses Ende ist charakteristisch für die alte Handelsstraße. Sie lockt mit ihrer faszinierenden Geschichte, die verloren ging an dieser unscheinbaren Straße, die glanzlos an der Peripherie von Städten verläuft.
Trieste. Ich tuckere in einer langen Autoschlange einen Hügel hinauf. Oben ein vom Abendrot erleuchteter Himmel. Ich sehe hinunter auf die Stadt, die heute wie vor 100 Jahren beeindruckt. "Da sehen wir die Kuppeln der Kathedrale von San Giusto auf des Kastellbergs Höhe, darunter die Türme von Santa Maria Maggiore und am Meeresrand die Kuppeldächer, die uns die prächtige Piazza grande andeuten." Von 1382 bis 1918 gehörte Trieste zum Habsburger-Reich. Zu Ruhm und Reichtum kam die Stadt erst im 18. Jahrhundert, durch ihre Ernennung zum zollfreien Hafen durch Kaiser Karl den VI.
Kaufleute aus ganz Europa und dem Nahen und Fernen Osten schlugen ihre Waren in Trieste um. Den Einfluß der Österreicher findet man heute am ehesten noch in den Kaffeehäusern mit Strudeln und Palatschinken wieder. Der Geruch der Monarchie klebt an den verwelkenden Bauten der Altstadt. Man sieht, daß Triest von denselben Architekten geplant wurde wie andere Monarchiestädte Europas. Diese melancholische Atmosphäre inspirierte Dichter und Künstler wie Italo Svevo, James Joyce oder Richard Francis Burton, die in Triest arbeiteten und lebten.
In engen Serpentinen geht es hinunter in das Häusermeer, begleitet von einer alten blauen Tramway, die atemberaubende Gefälle scheinbar mühelos meistert. Ich parke neben der bronzenen Joyce-Statue und spaziere an die mole audace, einen Kai, der weit in die Bucht hinausragt. Die Luft ist angenehm mild. Das Licht reicht gerade, um zu photographieren. Ein buntes Sprachengewirr dringt an meine Ohren. Erleichtert, am Ziel zu sein, mische ich mich unter die Touristen.
Die Triesterstraße, Relikt einer Zeit von Kaisern und Königen, wird langsam von Gras überwuchert und vergessen werden. Das Meer ist in Purpur getaucht. Ich warte geduldig auf das Dunkel, während in den Hügeln von Trieste die ersten Lichter angehen.

Kommentare_
ich mag diesen bericht!
Ich bin sehr beeindruckt über die poetische Schreibweise, die dieser Reisebericht mit der alten Zeit verbindet.
bilder und text sind einfach top - egal, was manch ein "freund" dazu sagt