Stories_Wien als Filmschauplatz

Vienna calling

Haben Sie Harvey Keitel je als Wiener Inspektor Netusil erlebt, Burt Lancaster und Alain Delon auf ihrer Tour durch die hiesige Kanalisation begleitet oder den etwas anderen Nachtportier kennengelernt? Dann vergessen Sie die Herren Bond oder Hunt und folgen Sie lieber Reinhard Jud auf seinem Streifzug durch die Landeshauptstadt.    07.12.2015

 

Nicolas Roeg hat zwei Wochen nach den Schauplätzen für die Wohnung der weiblichen Hauptfigur Milena Flaherty gesucht. Er fand das Haus mit einem "Komet"-Elektrogeschäft im Erdgeschoß in der Schönbrunnerstraße in Meidling, neben der späteren U-Bahnstation. In der Wohnung ereignen sich die entscheidenden Begegnungen zwischen Milena (Theresa Russell) und ihrem Geliebten Max Linden (Art Garfunkel), einem amerikanischen Psychiater, der an der Universität unterrichtet. Sie ist das räumliche Zentrum seiner Besessenheit; von der  gegenüberliegenden Straßenseite aus hält er das Haustor unter Beobachtung und folgt ihr, wenn sie mit Männern das Haus verläßt.

Milena war in Bratislava mit Stefan Vognic (Denholm Elliott) verheiratet. Zu Beginn des Films trennt sie sich von ihm und fährt über die Staatsgrenze nach Österreich. Max Linder erhält vom US-Geheimdienst den Auftrag, Informationen über sie einzuholen, kann aber weder als Spion noch als Psychiater ihr Verhalten entschlüsseln. Der promiskuitiven Kalifornierin ist er am wenigsten als Geliebter gewachsen. Als sie sich mit einer Überdosis Tabletten vergiftet, verbringt Max eine Stunde lang an ihrer Seite, ohne die Rettung zu verständigen. Beim Verhör mit dem charismatischen Polizeiinspektor Max Linder (Harvey Keitel) wird er mit dem Verdacht der Vergewaltigung konfrontiert.

 

"Bad Timing" hätte bereits Mitte der 70er Jahre nach einer Story von Constanzo Constantini in Rom gedreht werden sollen. Damals ging es um das ungesunde Verhältnis zwischen einem wohlhabenden Playboy und seiner Freundin. Nachdem Roeg ergebnislos in mehrere amerikanischen Produktionen involviert war - "Out of Africa", "Flash Gordon" und "Hammett" -, die später von anderen Regisseuren realisiert wurden, griff er 1979 auf den Stoff zurück und verlagerte den Schauplatz nach Wien, im Kalten Krieg Hauptstadt der Spionage, daneben Wirkungsort von Sigmund Freud. Bei einem Museumsbesuch von Alex und Milena gibt es auch noch Gemälde von Gustav Klimt und Egon Schiele zu sehen. Als Darsteller waren Bruno Ganz und Sissy Spacek vorgesehen; Roeg entschied sich aber für den darstellerisch unerfahrenen Sänger Art Garfunkel und die junge Amerikanerin Theresa Russell, mit der er nach den Dreharbeiten ein jahrelanges Ehe- und Arbeitsverhältnis einging.

Wie in seinen Filmen davor spielte die Fremdheit der Schauplätze - die Outbacks von Australien in "Walkabout" (1971), Venedig im November in "Don´t Look Now" ("Wenn die Gondeln Trauer tragen" 1973), New Mexico in "The Man Who Fell to Earth" ("Der Mann, der vom Himmel fiel", 1976) - eine besondere Rolle: Wien wirkt grau und abstoßend, die Bewohner sind mies gelaunt und beim geringstem Anlaß feindselig. Ohne sich am Milieu zu weiden oder Schäbigkeit auszustellen, wird konstantes Unbehagen geschaffen, Alltagstristesse als Umraum für eine Geschichte gegenseitiger Zerstörung.

 

 

Der Spionagefall verläuft bei "Bad Timing" im Sand. Als Referenz an das Genre, vor allem den einen maßgeblichen Film, Carol Reeds "The Third Man" ("Der dritte Mann", 1949), bleibt nur der Einsatz von Anton Karas´ Zithermusik. Bis Ende der 70er Jahre sollten internationale Produktionen mit Wien als Schauplatz immer wieder auf "The Third Man" Bezug nehmen: die düsteren Gassen, Stiegenhäuser und Wohnungen in Sheldon Reynolds "Foreign Intrigue" ("Die fünfte Kolonne", 1956) mit Robert Mitchum und Ingrid Thulin, als Kontrast zur Eleganz an der Cote d´Azur. Die Szene am Riesenrad im Prater in "The Day of the Jackal" ("Der Schakal", 1973) von Robert Zinnemann, in der der Schakal auf seine Auftraggeber vom OAS trifft. Einen Sprung weit entfernt von der Kanalisation die U-Bahnbaustelle am Karlsplatz als Austragungsort des Höhepunkts in Michael Winners "Scorpio" ("Scorpio, der Killer", 1973) mit Burt Lancaster und Alain Delon.

Selbst in der italienischen Produktion "Il portiere di notte" ("Der Nachtportier", 1974) von Liliana Cavani gibt es mit Bildern von der der Reichsbrücke einen Verweis auf Carol Reeds Klassiker, auch wenn der Film nichts mit Spionage zu tun hat. Aber wie in "The Third Man" und "Bad Timing" ist Wien ein Relikt, von der Zeit überholt, belebt allemal von Deformierten und - nicht bei Reed und Roeg, aber dezidiert bei Cavani - Unentwegten.

Der ehemalige SS-Offizier Maximilian Theo Aldorfer (Dirk Bogarde) arbeitet 1957, zwölf Jahre nach Kriegsende, als Nachtportier in einem besseren Wiener Hotel in Naschmarktnähe. Nebenbei leistet er Kupplerdienste, indem er junge Männer an eine alte Adelige vermittelt. Unter den Gästen erkennt er eines Abends die Frau eines amerikanischen Dirigenten, Lucia Atherton (Charlotte Rampling), die einst in dem KZ interniert war, wo er als Aufseher arbeitete. Damals gab es ein sexuelles, sadomasochistisches Verhältnis zwischen ihnen, das nun, unter anderen Umständen, von Lucia freiwillig wieder aufgenommen wird.

Ehemalige aus den oberen gesellschaftlichen Etagen, an deren Seilschaft Theo gebunden ist, fühlen sich von Lucia bedroht und fürchten aufzufliegen. Sie üben Druck auf ihn aus, sie zu eliminieren. Theo zieht sich mit Lucia in seine Wohnung zurück, diese wird von den Nazis belagert, es endet in Wahn und Schrecken. Neben der Bindung von Opfer und Täter liegt das Unbehagen, das auch "Bad Timing" auf anderer Ebene charakterisiert, im Zusammenhang der miefigen und zerschlissenen Bürgerlichkeit im Hotel mit einer Szene am Dach gegenüber vom Stephansdom, in der angesehene Vertreter der Elite mit ausgestrecktem rechten Arm "Heil Hitler!" brüllen.

Die Kritik, die den Film zum Skandal erklärte, konzentrierte sich auf die sadomasochistische Beziehung, nicht jedoch auf die Darstellung politischer Kontinuität. In den USA wurde "Il portiere di notte" als Pornofilm eingestuft, in Italien zuerst verboten und schließlich auf Intervention von Luchino Visconti, Bernardo Bertolucci und Pier Paolo Pasolini für den Kinoeinsatz freigegeben. Soviel ich weiß, schwieg man in Wien darüber. Genauso wie über "Bad Timing".

 

Reinhard Jud

Blackout - Anatomie einer Leidenschaft

(Bad Timing)

Leserbewertung: (bewerten)

Koch Media (USA 1980)

122 Min. + Zusatzmaterial dt. Fassung oder engl. OF

Regie: Nicolas Roeg

Darsteller: Art Garfunkel, Theresa Russell, Harvey Keitel u. a.

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