Stories_Abschlußbericht Cannes 2017

Mitten im Geschehen

Michael Kienzl hat die Filmfestspiele auch 2017 überlebt und berichtet von seinem Ausflug in die Virtual Reality - mit Alejandro González Iñárritu, südkoreanischem Genrekino und Jean-Stéphane Sauvaires Triumph in Sachen Häfenkino.    13.06.2017

Das Festival von Cannes spielt sich normalerweise auf engstem Raum ab. Alles, was im offiziellen Programm läuft, wird im gleichen Gebäudekomplex gezeigt - einer Bausünde aus den späten 70er Jahren, die ironischerweise den Namen "Palast" trägt. Um die Gegenveranstaltungen "Semaine de la Critique" und "Quinzaine des réalisateurs" zu besuchen, muß man auch nur ein paar hundert Meter die Croisette entlanglaufen. Als Besucher schafft man es während der zehn Tage, die das Festival dauert, eigentlich nie über diese Grenzen hinaus. Alejandro González Iñárritus Virtual-Reality-Arbeit "Carne Y Arena" bot heuer allerdings einen willkommenen Anlaß, für kurze Zeit den ganzen Trubel hinter sich zu lassen. Nachdem man von einem Privatchauffeur vor die Tore der Stadt gefahren wurde, eröffnete sich in einer alten Flughalle ein mysteriöses Science-Fiction-Szenario. Als sich die ungewöhnlich freundlichen Angestellten der Besucher annahmen und dabei nie Worte wie Film oder Installation in den Mund nahmen, sondern immer nur esoterisch von der experience sprachen, fühlte man sich ein wenig, als wäre man in die Hände einer Psychosekte geraten.

 

Daß "Carne y Arena" nicht gesehen, sondern erfahren werden will, dürfte ganz im Sinne Iñárritus sein. Von "Amores Perros" bis "The Revenant" hat es sich der mexikanische Regisseur zur Aufgabe gemacht, ganz nah dran an seinen schicksalsgebeutelten Figuren zu sein. Diesmal erlaubt es ihm die modernste Technologie sogar, auch noch die räumliche Distanz aufzuheben. Die Absicht, die hinter seiner Arbeit steht, ist eigentlich ehrenwert: In einer Zeit, in der wir ständig von namenlosen Flüchtlingen lesen, die für uns zwangsläufig abstrakt bleiben müssen, vertraut Iñárritu darauf, daß wir ihre Geschichten erst verstehen können, wenn wir sie selbst erlebt haben. Jeder Besucher bekommt dafür ein monströses Headset aufgesetzt und kann sich barfuß in einem leeren, mit Sand aufgeschütteten Raum bewegen, der die Wüste zwischen Mexiko und den USA darstellen soll. Gemeinsam mit einer Gruppe von Flüchtlingen gerät man schließlich in eine ruppige Polizeikontrolle. Die Animationen sind zwar ein bißchen unscharf, und die Bewegungen wirken etwas holprig, aber es ist zweifellos beeindruckend, wie frei man sich hier in einem filmischen Szenario bewegen kann.

Doch obwohl man umgeben ist von erhobenen Maschinengewehren, weinenden Kindern und einer Menge Geschrei, fühlt man sich in diesem Setting doch eher überfordert als emotional beteiligt. Die etwa siebenminütige Szene basiert zwar auf einem wahren Vorfall, aber wer diese Personen sind, erfährt man erst in einer separat präsentierten Videoinstallation. Als Zuschauer bleibt einem also nichts anderes übrig, als sich wie ein Voyeur an der Spannung des Geschehens zu berauschen. Ob diese Art von Elendspornographie nun im Sinne Iñárritus ist, darf stark bezweifelt werden. Immerhin kann "Carne Y Arena" als Beginn einer neuen Kinoerfahrung gesehen werden. In Zukunft werden sich hoffentlich auch interessantere Regisseure dieser Technologie annehmen.

 

 

Ein Bild vom desolaten Zustand unserer Welt konnte man sich auch im Festival-Ghetto machen. Zum Beispiel bei Michael Haneke, der anhand einer Familie aus Calais zeigt, daß westeuropäische Wohlstandsbürger nicht nur mit den Auswirkungen der Flüchtlingskrise überfordert sind, sondern sich auch gegenseitig nichts mehr zu sagen haben. Stattdessen flüchten sie sich in die Scheinwelt des Internets, wo sie ihrem unterdrückten Zerstörungsdrang freien Lauf lassen können. "Happy End" wirkt wie ein vorläufiges "Best of" von Hanekes Werk; inklusive emotionale Vergletscherung und Medienkritik. Obwohl der Regisseur gerne auf Mißstände hinweist, kommt er dabei gar nicht so oberlehrerhaft rüber, wie sein Ruf vermuten läßt. Wenn er sich zum Beispiel immer wieder der gestörten zwischenmenschlichen Kommunikation widmet und ein aus der Ferne beobachtetes Gespräch mit einem blauen Auge enden läßt, beweist er sogar ein wenig schwarzen Humor.

Während Haneke nicht nur Pessimist, sondern auch ein guter Beobachter alltäglicher Gemeinheiten ist, denken andere Regisseure scheinbar, es wäre schon eine große Leistung, wenn man zeigt, wie schlecht die Welt ist. Ein gutes Beispiel für diese Kategorie ist der Grieche Yorgos Lanthimos ("The Lobtster"), der seit seinem Debütfilm "Dogtooth" eigentlich nichts anderes macht, als von Dystopien zu erzählen, in denen sich die Menschen ein Gefängnis aus ihren eigenen Zwängen gebaut haben. Auch in "The Killing of a Sacred Deer" haben wir es mit Figuren zu tun, die das Fühlen längst verlernt haben. Nicht nur das Verhältnis zu anderen Menschen, auch das zum eigenen Körper wirkt kalt und distanziert. Wenn zwei Jungs die Menge ihrer Achselhaare vergleichen, reden sie darüber wie über einen wissenschaftlichen Gegenstand. Und wenn die Frau des Protagonisten (Nicole Kidman) Sex will, legt sie sich einfach nackt aufs Bett, stellt sich tot und wartet, bis sie begattet wird. Es besteht kein Zweifel daran, daß Lanthimos eine degenerierte Gesellschaft sezieren will. Das Problem dabei ist nur, daß er zwar offensichtlich von seiner eigenen Smartheit überzeugt ist, aber abgesehen von ein paar Klischees über den modernen, von sich selbst entfremdeten Menschen nichts zu erzählen hat. Dann doch lieber Haneke.

 

 

Oder den südkoreanischen Thriller "The Merciless", der sich zwar ebenfalls etwas zu leidenschaftlich im Nihilismus suhlt, aber eben auch durch seine komplexe, durch verschiedene Zeitebenen gebrochene Erzählung und seine straff inszenierten Actionszenen besticht. Ständig geht es um das Gefälle zwischen dem, was die Figuren zu sein vorgeben, und dem, was sie tatsächlich sind. Seinen jungen Helden etabliert Regisseur Byun Sung-hyun zunächst etwa als furchtlosen Draufgänger, der in der Hierarchie eines Gefängnisses schnell nach oben klettert - und entlarvt ihn wenig später als Polizeispitzel, der einen Drogenring auffliegen lassen will. Immer wieder spielt der Film mit solchen Überraschungsmomenten, führt seine Figuren wie auch den Zuschauer genüßlich hinters Licht und entwirft eine finstere Welt, in der man nur enttäuscht werden kann.

 

 

Schade eigentlich, daß man sich in Cannes viel zu selten traut, Genrefilme wie diesen - also Filme, die eher funktionieren als ihren Kunstanspruch demonstrativ nach außen tragen wollen - auch im Wettbewerb zu präsentieren. Noch bedauerlicher ist das bei Jean-Stéphane Sauvaires minimalistischem Gefängnisfilm "A Prayer Before Dawn". Basierend auf den Erfahrungen des britischen Kickboxers Billy Moore konfrontiert uns der Film mit der barbarischen und mitleidslosen Welt eines thailändischen Gefängnisses; einem mit viel zu vielen Inhaftierten vollgepackten Moloch, in dem an jeder Ecke geschlagen, vergewaltigt und gemordet wird. Wie sich der wegen Drogen inhaftierte Billy hier, wo er die Sprache nicht versteht und mit starken Entzugserscheinungen zu kämpfen hat, zu behaupten versucht, das inszeniert Sauvaire als gewalttätigen Rausch, bei dem er seinem Protagonisten nie von der Seite weicht. "A Prayer Before Dawn" verläßt sich ganz auf die gestörte Psyche und den sich ständig verausgabenden Körper seiner Hauptfigur - und triumphiert.

Alejandro González Iñárritu könnte sich ein Beispiel an diesem Film nehmen. Denn Sauvaire gelingt es auch ganz ohne Virtual Reality, seinen Zuschauer mitten ins Geschehen zu werfen.

 

Michael Kienzl

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