Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER # 16, Pt. 2

"Trepanation auf Krankenschein!"

Haben Sie Hirnsausen? Verspüren Sie diesen unglaublichen Druck in Ihrem Schädel? Dann haben Sie sicher zuletzt Rokkos Ausführungen zum Thema Schädelbohrung gelesen. Im zweiten Teil unterhält er sich mit einem, der es genau wissen wollte und Licht ins Dunkel brachte: Immo Jalass im Interview.    25.05.2009

Rokko: Stell dich doch bitte kurz vor, damit meine Leser wissen, mit wem sie es zu tun haben.

Immo: Immo Jalass, geboren am 8. Februar 1938 in Hamburg. Volksschule, Realschule, Förderklasse und Abschluß mit der Mittleren Reife. Im Alter von 16 Jahren zusammen mit dem Pastorensohn Karl-Heinz Kolditz in Hamburg auf der Suche nach (schwarzen) Marihuana-Zigaretten gegangen. Drogistenlehre, kaufmännischer Angestellter, den Wehrpaß zerrissen, nachdem meine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen nicht anerkannt worden war, und auf nach Schweden. Wieder Hamburg, später Kunstmalerei - erst Ibiza und dann Amsterdam. Dort langjährige enge Zusammenarbeit mit Bart Huges.


Rokko: Wann hattest du deine Trepanation?

Immo: Nachdem ich in Holland und anschließend hier in Hamburg bereits eine Reihe von Chirurgen und Psychiater ohne Erfolg mit der Bitte um Trepanation konsultiert hatte, habe ich im Oktober 1977 die Operation an mir selbst vorgenommen.

 

Rokko: Wie hast du den Eingriff ausgeführt? Alleine - oder hat dir jemand geholfen? Welche Werkzeuge und Betäubungsmittel hast du benutzt?

Immo: Ich habe die Operation alleine an mir vorgenommen. Von Werkzeugen will ich nicht schreiben. An Instrumenten hatte ich Onnos Zahnarztbohrer (Elektrobohrer) an der Decke hängen, ein Skalpell, Xylocain als Betäubungsmittel (hatte mir der Sohn eines Zahnarztes besorgt), einen Spiegel und das nötige Verbandszeug.

 

Rokko: Wie lange hat die Operation gedauert, und wie groß war das Loch?

Immo: Eine Dreiviertelstunde. Zunächst hatte ich einen Drei-Millimeter-Zahnarztbohrer verwendet und anschließend nochmals das Loch mit einem Fünf-Millimeter-Bohrer erweitert.

 

Rokko: Wie gefährlich ist ein solcher Eingriff?

Immo: Mit Kenntnis der Operationstechnik wohl relativ ungefährlich. Lediglich der letzte Moment des Durchbohrens birgt eine gewisse Gefahr, da auf der einen Seite genügend Druck ausgeübt werden muß, um mit dem Bohren voranzukommen, auf der anderen Seite aber äußerste Vorsicht geboten ist, um nach dem Durchbohren des Schädelknochens die Hirnhaut nicht mit dem Bohrer zu beschädigen oder zu verletzen. Allerdings ist die äußere Hirnhaut elastisch und verhältnismäßig kräftig.

 

Rokko: Was waren die Effekte nach der Trepanation - sowohl die langfristigen als auch die kurzfristigen?

Immo: Ein leichtes Druckgefühl im Kopf, vergleichbar mit zehn Minuten Auf-dem-Kopf-stehen, Erleichterung, Entspannung, ein neues Ruhen in mir selbst. Konstante Kontemplation im Mittelpunkt der Welt.

 

Rokko: Ich habe gehört, man solle die Trepanation im Laufe der Zeit "auffrischen". Ist das wahr? Und, wenn ja, wie oft? Hast du das schon gemacht?

Immo: Nein.

 

Rokko: Wieviele Menschen, glaubst du, leben zur Zeit, die aus denselben Gründen wie du eine Trepanation vorgenommen haben?

Immo: Ich kenne sechs Menschen, die sich selbst trepaniert haben.

 

Rokko: Was ist deine Meinung über Bart Huges und auch Amanda Feilding und Joe Mellen?

Immo: Natürlich genießt im besonderen Bart Huges meine Bewunderung, Hochachtung und Wertschätzung, aber auch Amanda Feilding ebenso wie Joe Mellen haben beide meine volle Hochachtung. Amanda, die sich eine Woche nach meinem Besuch bei ihnen in London selbst trepaniert hat, und Joe, der in "Homo sapiens correctus" den Begriff "Luftröhre" von "airtube" in "windpipe" geändert hat.

 

Rokko: Ich habe gehört, daß es illegale Kliniken in Mexiko und Ägypten geben soll, die Trepanation anbieten - kannst du das verifizieren? Wenn ja, wieviel kostet eine Operation?

Immo: Ich sehe keine Möglichkeit, das zu verifizieren.

 

Rokko: Könntest du - wenn ich möchte - eine Trepanation für mich arrangieren?

Immo: Ich glaube nicht. Ich kenne dich nicht. Ich weiß nicht, wie alt du bist. Angenommen, du bist heute 25 Jahre, also ein Erwachsener, dann könntest du eventuell ein "Dritter Auger" sein, sei es durch ein Trauma in der Jugend, eine offengebliebene Fontanelle oder eine mehr oder weniger nicht geschlossene Schädelnaht. In diesen Fällen würdest du bereits über Gehirnpulsationen verfügen, und eine Trepanation hätte keine Indikation. Ich weiß bis heute nicht, wie das Vorhandensein beziehungsweise das Fehlen von Gehirnpulsationen nachgewiesen werden kann.

 

Rokko: Wie ist eigentlich die Gesetzeslage in Bezug auf Trepanation?

Immo: Gibt dazu überhaupt irgendwelche Gesetze?

 

Rokko: Was waren deine Erfahrungen mit den Gesetzen und der Öffentlichkeit?

Immo: Ich hatte 1977 die Gelegenheit, meine Selbsttrepanation auf einer Gerichtsverhandlung vor dem Hamburger Landgericht zu schildern. Im Urteil hieß es:

"Die Äußerungen des Angeklagten in der Hauptverhandlung und das von ihm während des Termins gewonnene Persönlichkeitsbild bestätigen die Ausführungen des Sachverständigen in allen Punkten. Eine Unterbringung des Angeklagten nach §63 StGB hat die Kammer trotz der Anwendung des §20 StGB nicht entsprochen, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. Von dem Angeklagten sind keine rechtswidrigen Taten zu erwarten, die derart erheblich sind, daß er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich wäre."

Und dann: "Soweit der Angeklagte nach seiner geglückten Trepanation beginnen sollte, diese in verstärktem Maße zu propagieren, ergibt sich auch daraus nicht die Gefahr rechtswidriger Taten, die die Allgemeinheit gefährden würden. Der Angeklagte ist nach dem Persönlichkeitsbild, das die Kammer von ihm in der Hauptverhandlung gewonnen hat, ein Mensch, der zwar versucht, andere von seinen Ideen zu überzeugen. Er ist aber kein Gewalttäter. Die Kammer ist daher der Überzeugung, daß er niemals gewaltsam versuchen wird, anderen eine Trepanation beizubringen. Er wird nach aller heute möglichen Voraussicht lediglich versuchen, seine Wahnideen zu verbreiten. Darin aber liegt keine Gefahr für die Allgemeinheit."

 

Rokko: Wie sieht dein Alltag derzeit aus? Hast du Familie, arbeitest du?

Immo: Ich bin inzwischen Ruheständler und lebe zusammen mit Petra vor den Toren der Stadt Hamburg in einem Holzbungalow. Dazu gibt es einen Garten mit Blumen, Obst und Gemüse zum Bearbeiten. Weiters pflege ich meine drei Homepages zu Nahrungsergänzungsmitteln und zur Trepanation, versuche zur Zeit meine Briefmarkensammlung zu verkaufen, muß mich um meine Schildkröte kümmern und letztendlich schreiben, damit es besser wird, denn nur wenn wir wirklich wollen, werden Worte wieder Wirklichkeit.

 

Rokko: Gibt es noch etwas, das du loswerden möchtest?

Immo: Meine Forderung: Trepanation auf Krankenschein!

 

Rokko: Vielen Dank, daß du dir Zeit genommen hast - und alles Gute!

Immo: Auch dir nur das Beste!

 

 

Epilog: Immo Jalass´ Schilderung der Selbsttrepanation

 

"Am Sonnabend, dem 8. 10. 1977, war ich allein in der Wohnung. Ich hatte die letzten Tage bewußt wenig getrunken und konnte alles für die Operation vorbereiten. Die Reinigung des Zimmers, die Sterilisation der Nadel und der Bohrer und all der anderen Utensilien; den Aufbau des Spiegels und die Verklebung der Sonnenbrille mit Leukoplast, damit mir das Blut nicht in die Augen laufen würde. Ich schloß mich ein. Ausreichend Xylocain hatte ich noch, wenn nichts durch Unvorsichtigkeit verlorengehen würde. Es klappte mit den Injektionen. Sechsmal im Kreis um die Stelle am Haaransatz, wo ich anschließend das Kreuz schneiden und das Loch bohren wollte.

Ich wartete noch ein paar Augenblicke, damit das Betäubungsmittel auch gut ein- und durchziehen konnte, die Haut sich prall vorbeulte. Jetzt setzte ich das Skalpell zum senkrechten Schnitt an, kraftvoll, gut einen Zentimeter lang bis auf den Knochen, dann einen Zentimeter quer überkreuz, das Blut strömte warm hervor, an mir hinunter auf den Boden. Beide Schnitte hatten gesessen. Die vier Hautecken standen hoch. Ich saß im Hochsitz vor dem Spiegel und hatte gutes Scheinwerferlicht. Das Blut lief an der angeklebten Sonnenbrille seitlich über meine Wangen, teilweise in den Mund und auf den Boden. Ich setzte den Bohrer an. Zwei Millimeter Rosenkranz. Ich war erstaunt, wie hart der Knochen doch war, aber es ging voran, und Schmerzen konnte ich nicht verspüren.

Dann der Augenblick, wo ich kurz davor war, mit dem Bohrer durch den Knochen zu stoßen. Ich mußte vorsichtig sein, sehr vorsichtig zu Werke gehen. Ich durfte nicht vorstoßen, um nicht Gefahr zu laufen, die Dura mater und womöglich das Hirn selbst zu beschädigen. Ich mußte auf der einen Seite genug Kraft anwenden, um mit dem Bohren voranzukommen, auf der anderen Seite jede Sekunde in der Lage sein, den Bohrer zurückziehen zu können. Und dann war ich auch schon mit dem Bohrer durch den Knochen hindurch. Es war gelungen. Vielleicht hatte es drei Minuten gedauert. Ich konnte den Bohrer zurückziehen, ihn aus der Fassung nehmen und gegen einen vier Millimeter Rosenkranz auswechseln. Es hatte sich inzwischen eine ansehnliche Blutlache gebildet, ich hatte den Mund voll Blut, spuckte was aus und schluckte was runter. Mit dem Vier-Millimeter-Bohrer war es nicht schwierig, ich hatte mich fast schon daran gewöhnt, es klappte alles, nur hatte ich doch schon allerhand Blut verloren. Ich mußte mich wundern, wie hart doch der Knochen ist, aber Schmerzen verspürte ich nicht. Ich war erneut mit dem Bohrer hindurch. Dann hörte ich die Wohnungstür und die Zimmertür nebenan. Die FP (Anmerkung d. Verf.: FP steht für Frigga Pöschl, eine österreichische Ballerina) mußte nach Hause gekommen sein. Ich hatte die Befürchtung, daß meine Kraft und Konzentration nicht reichen würden, wenn ich zuviel des Blutes verlieren würde, und die Rückkehr der FP hatte mich gestört, obwohl ich noch gern mit der nächsten Größe gebohrt hätte. Nun, ich war trotzdem zufrieden. Ich beendete die Operation. Ab mit der völlig verschmierten und verklebten Sonnenbrille.

 

Das Blut wischte ich mit der Gaze unverzüglich grob weg, nahm den Alkohol hinzu und säuberte sorgfältig mit größter Vorsicht. Etwas Jod auf die Gaze, um die Wunde vor möglichen Erregern zu schützen. Das Bluten hatte fast aufgehört, noch einmal alles abtupfen, Gaze und ein Pflaster drauf und das Ganze zum Schluß noch mit einer Binde um den Kopf. Grobes Sauberwischen soweit wie möglich. Dann erst einmal langlegen, mit dem Kopf auf ein Kissen, um die Entspannung und das Sein zu genießen, dies umfassende Wohlbefinden und das zunehmende Bewußtsein vom Selbst. Es war gelungen. Ich hatte das dritte Auge."

 

(Aus: "Neue deutsche Literatur", Jahrbuch 1992. Ausgewählte Texte neuer und bekannter Autoren", herausgegeben von Dagmar Reichardt. Natürlich fragte ich Immo, inwieweit der Bericht den Tatsachen entspreche bzw. er die Freiheit eines Autors genutzt hätte. Seine Antwort war klar: "Es war selbstverständlich die Wirklichkeit, die ich beschrieben habe. Möglicherweise hat das Auswahlkollegium für die Anthologie oder Einzelne desselben meine Geschichte als erfunden, vielleicht als Literatur verstanden, aber so und nicht anders habe ich meine Selbsttrepanation durchgeführt. (...) Alle Informationen sind also Fakten.")

Rokko’s Adventures

Unsere Feinde: der Knochen und die Schwerkraft


"Hat´s dir nicht gefallen, dann bohr dir doch ein Loch ins Knie", sangen einst Jim Hensons Fraggles. Für die wahre Erleuchtung penetrieren manche jedoch lieber ihre Schädeldecke. Grund genug für Rokko, sich genauer mit dieser Praktik auseinanderzusetzen: der Trepanation.

Links:

aus: Rokko´s Adventures #1

(erschienen im Juni 2007)


Text & Interview: Rokko

Fotos: Michael Hanisch

Links:

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