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Stories_Stadtrundgang Hamburg
"Ich bin neu in der Hamburger Schule und kenn´ mich nicht so gut aus."
Vier Tage Hamburg, täglich 14 Stunden auf den Beinen, mit einem Local Guide unterwegs und von verschiedener Reiseliteratur unterstützt - und dennoch bleibt das Gefühl, nichts gesehen, nichts erfaßt und nicht genug Zeit gehabt zu haben. 23.10.2009
Seit rund einer Stunde lassen wir uns völlig übernächtigt durch das Viertel St. Georg treiben. Die Anfahrt mit dem Nachtzug, ein auraler Alptraum, das Hotelzimmer noch nicht beziehbar. Es ist Samstag, acht Uhr früh, das Viertel neben dem Hauptbahnhof liegt uns friedlich und verschlafen zu Füßen, zeigt aber deutliche Spuren heftiger nächtlicher Exzesse. Scherben, Müll und erbärmlicher Gestank begleiten uns, aufs Niedersetzen am Brunnen oder am Randstein verzichten wir. Erste Kneipen haben bereits geöffnet, viele der eher zwielichtigen Etablissements sind überhaupt nur von vier bis sechs Uhr morgens geschlossen. Aus einer dröhnt laut deutscher Schlager, alte Männer sitzen beim Frühstücksbier. Geschwind hier einen Kaffee trinken? Lieber nicht. Billige Ramschläden und eine enorme Anzahl an Sexshops und Gay-Lokalen säumen die Bremer Reihe, in der wir wohnen, und den anschließenden Hansaplatz mitten im St.-Georg-Viertel. Zur Außenalster mit ihren Luxushotels ist es nur ein Katzensprung. Hier sehr heruntergekommen, dort ganz nobel.
Drei Minuten vor dem vereinbarten Treffen mit unserem Guide Hanse-Kathi läutet das Telefon. "Wo bleibt ihr denn?" fragt sie. "Hier ist es echt grauslich. Und daß ihr überhaupt hier wohnt! In drei Minuten bin ich zweimal gefragt worden, ob ich hier arbeiten möchte." Wir verstehen die Aufregung nicht - und was für eine Arbeit das sein soll. Daß wir uns im St.-Georg-Viertel in einem Zentrum für Prostitution und Drogenhandel befinden, wußten wir vorher nicht. Daß es in den 90ern so richtig arg gewesen sein soll, mittlerweile aber gerade trotz kleinerer Reibereien wieder schick wird, hier zu wohnen, auch nicht.
Wir fahren zum Frühstück auf die Schanze. Dort weht ein Hauch von Anarchie, es ist bunt, abgefuckt und voller Graffiti. Hier finden die schon zur Tradition gewordenen 1.-Mai Krawalle-statt, hier steht die 1888 als "Concerthaus Flora" errichtete und 1989 besetzte "Rote Flora", immer wieder Schauplatz heftiger Kämpfe sogenannter Autonomer mit der Polizei, in der heute Konzerte und politische Veranstaltungen stattfinden und Werkstätten sowie Volxküchen beheimatet sind. Es ist ein hipper Platz für Bobos und Alternative, noch, ohne elitär zu wirken - doch die Gentrifizierung ist auch hier im Gange. Plattenläden, Buchhandlungen, kleine Mode- und Schuhgeschäfte, Second Hand für alle Bereiche, Kleinkunst, Kneipen, Restaurants, Cafés und Schanigärten ohne Ende prägen das Viertel. In der Alten Rinderschlachthalle findet jeden Samstag die Floh-Schanze statt, ein riesiger Flohmarkt mit unermeßlicher Auswahl. Abends verwandelt sich die Schanze in einen einzigen, prall gefüllten Gastgarten. Wohlwollend stellen wir fest, daß Speisen und Getränke eine Spur günstiger sind als bei uns daheim.
"Habt ihr die Neue von Jarvis Cocker?" fragt hinter mir ein Gast im Plattenladen "Hanseplatte". "Ne, haben wir nicht. Wir führen nur Musik aus Hamburg. Oder Bands, die auf Hamburger Labels erscheinen." Der Laden, der gleich an den Flohmarkt grenzt, führt neben den ganz großen Aushängeschildern der Hamburger Schule - Tocotronic, Sterne oder Blumfeld - eine Reihe dem Musikinteressierten durchaus bekannter Bands. Und er schränkt sich stilistisch überhaupt nicht ein, wie CDs des Sängers und Schauspielers Hans Albers oder des Komikers, Musikers und Schauspielers Heinz Erhardt beweisen. Auch Österreicher finden sich hier: Garish zum Beispiel, weil die in Deutschland auf dem Hamburger Label Tapete erscheinen.
Im um die Ecke gelegenen Park Planten un Blomen (das ist Hamburger Platt und bedeutet ins Hochdeutsche übersetzt Pflanzen und Blumen) läßt es sich zwischen Rosengarten und Japanischem Garten, Seen und Bächen hervorragend entspannen.
Sonntagmorgen, 7.30 Uhr am Hauptbahnhof. Die U-Bahn ist brechend voll. "Wo wollen denn die alle hin?" frage ich Hanse-Kathi. "Auf den Fischmarkt. Das sind Touristen, so wie ihr", gibt sie schnippisch zurück. Tatsächlich, an den Landungsbrücken leert sich der Zug, und Menschenmassen schieben sich Richtung Fischmarkt. Musikkapellen säumen den Weg, hier eine Big-Band, dort Gipsy-Folklore. Am Markt gibt es alles, aber wirklich alles: Gewand, Lebensmittel, Souvenirs, Geschirr, Plunder und Ramsch, Obst, Käse, Gemüse, Pflanzen, und ja - auch Fisch. Die wahren Attraktionen sind aber die Standler wie der Keks-Gigant oder der Nudel-Olli. Wie Showmaster stehen sie auf ihren Wagen und bieten Waren feil, mit brüllender, sich überschlagender Stimme und einer ordentlichen Portion Humor. "Da, wo andere aufhören, da fängt der Nudel-Olli erst an", schreit Olli in die Menge der Schaulustigen, während er große Tüten mit Nudelpäckchen füllt. "Da tu ich noch Makkaroni rein", etliche Packungen wirft er ins johlende Publikum, "und einen Kilo Spagetti, die guten, die einen Meter langen ..." Viel davon verkauft er nicht, aber sein Publikum amüsiert sich prächtig.
Zentrum des Fischmarkts bildet die 1896 errichtete Fischauktionshalle. Wie so viele Bauten in Hamburg strahlt dieser Backsteinbau rot leuchtend in der Sonne. Und wie so viele Gebäude in der Stadt wurde die Halle im sogenannten "Feuersturm", einem Angriff alliierter Luftstreitkräfte 1943, so schwer beschädigt, daß sie ihrem Abriß nur knapp entging. An den beiden Enden der Halle sind Bühnen aufgebaut, auf denen abwechselnd Bands hauptsächlich deutschen Schlager darbringen. Das Bier fließt in Strömen, das Publikum grölt zu "Marmor, Stein und Eisen bricht". Schwer zu sagen, wer hier um halbneun noch oder schon wieder betrunken ist. Es riecht nach Fisch, Schiffsdiesel, Bier und brackigem Wasser.
Neben U-Bahn und Schnellbahn sind in Hamburg auch einige Schiffslinien in das öffentliche Nahverkehrsnetz integriert. Wir fahren mit einem Linienschiff ein paar Stationen elbabwärts nach Övelgönne, um von hier aus die Elbe abwärts nach Blankenese zu wandern. Gleich hinter dem Museumshafen Övelgönne, in dem mehrere historische und fahrfähige Schiffe vor Anker liegen, liegt das ehemalige Fischerdorf Övelgönne, heute einer der wohl entzückendsten Stadtteile Hamburgs.
Ein Sandstrand lädt laut Reiseführer zum Baden ein, die Elbe gilt heute als zumindest so sauber, daß darin gebadet werden darf. "Ich kenn´ niemanden, der hier badet", kommentiert Hanse-Kathi trocken. Unser schmaler Weg führt vorbei an Vorgärten und kleinen, alten und frisch renovierten Häuschen, ehemals Behausungen der Kapitäne, Lotsen und Fischer, vorbei an bunten Blumen, unter schattigen Bäumen hindurch, stets mit Blick auf die Elbe, auf riesige Containerschiffe und kleine Boote. Es ist weit bis ins Treppenviertel in Blankenese, aber es lohnt sich. 58 Treppen mit 4864 Stufen schlängeln sich dort den Elbhang rauf und runter, es ist ruhig, grün und beschaulich. Die Häuer sind zumeist alt und stilvoll, neuere Bauten passen sich den Gegebenheiten an. Ein alter Mann, der - ausgerüstet mit Gartenschere und Gießkanne - seinen Garten pflegt und offensichtlich auf einen Plausch aus ist, rät uns, von Blankenese aus nicht mit der S-Bahn in die Stadt zurückzufahren, sondern mit dem Bus. "Der fährt entlang der Elbchaussee, da könnt ihr prächtige Bürgerhäuser bequem vom Bus aus besichtigen." Leider verstecken sich die meisten der herrschaftlichen Villen hinter dichten Hecken.
Nachmittags versuchen wir uns auf Hamburgs Vergnügungsmeile Nummer 1, der Reeperbahn, zu amüsieren. Das einst für Hafenarbeiter und Seeleute erbaute Vergnügungsviertel, das neben einschlägigen Betrieben auch Kneipen, Cafes, Varietés, Theater und Zirkus bot und in den Sechzigern mit Auftritten der Beatles in den Clubs "Indra", "Kaiserkeller" oder dem "Star Club" aufwarten konnte, wirkt an diesem Sonntagnachmittag zivilisiert. Tausende, zumeist ältere Touristen schieben sich durch die Straßen und verleihen dem Viertel trotz grell beworbener sexueller Angebote aller Art einen gemäßigten, fast langweiligen Touch. Gewaltexzesse soll es hier heute nicht mehr geben, dennoch beobachten wir am Hans-Albers-Platz, wie Polizei und Rettung einen am Boden liegenden Mann abtransportieren. Ein Transvestit redet heftig auf die Polizisten ein, jemand räumt Scherben auf. Ein Set, wie für uns Touristen bestellt.
Freitags und samstags allerdings ist es hier brechend voll mit vergnügungssüchtigem Publikum, denn hier befinden sich auch heute noch einige der hippsten Clubs der Stadt. "Oft sperrt die Polizei alle Zugänge, damit keine kleinen Kinder hinkönnen", erklärt Hanse-Kathi.
Sonntagabend. Wir fahren raus auf den Friedhof Ohlsdorf, den größten Parkfriedhof der Welt. Der ist mit seinen rund 400 Hektar so groß, daß er von zwei eigenen Buslinien mit 22 Haltestellen durchzogen wird. Auf dem 1877 eröffneten Friedhof liegen über 1,4 Millionen Menschen aller Glaubensrichtungen begraben. Wie zufällig in die Landschaft hingestreut liegen die Grabsteine, als könnte dieser Friedhof nie voll sein. Es ist grün, still, die Vögel zwitschern, kaum jemand ist zu sehen. Beinahe romantisch ...
Feiertag. Wir sind wieder zeitig am Morgen unterwegs. Erster Stopp: Harburg. Weil ich ein großer Fan von Heinz Strunks "Fleisch ist mein Gemüse" bin, möchte ich den Ort sehen, an dem diese traurige und zugleich aberwitzige Geschichte einer Jugend spielt. "Es gibt Orte, die sollte man früh verlassen, wenn man noch etwas vorhat im Leben. Der Hamburger Stadtteil Harburg liegt am falschen, dem südlichen Ufer der Elbe. Das schöne, große, eigentliche Hamburg ist auf der anderen Seite (...) Harburg ist der langweiligste Ort der Welt", schreibt Strunk. Der Bezirk Harburg hat mehr als 200.000, dessen Zentrum, die gleichnamige Stadt Harburg, rund 21.000 Einwohner - dennoch bekommen wir hier nicht mal einen Kaffee. Nichts hat geöffnet, nichts deutet auf Leben hin, wir sind hier die einzigen Touristen in einem ausgestorbenen Stadtteil. Verständlich, daß der Autor hier nicht bleiben wollte…
Letzter Tag. Was uns noch fehlt, ist "Hamburg klassisch", eine Tour durch die Altstadt. Wir starten am Rathaus, das - um hier im ehemaligen Überschwemmungsgebiet der Alster überhaupt errichtet werden zu können - auf 4000 Pfählen steht. Nicht nur diese Tatsache erinnert an Venedig; der ganze Rathausmarkt ist dem Markusplatz nachempfunden. Imposantestes Denkmal der Altstadt ist das Mahnmal Nikolaikirche, von der seit dem "Feuersturm" nur noch der Turm und ein paar Mauerreste stehen. Schweigend stehen wir im ehemaligen Inneren. Rund um uns toben Kinder, plappern Touristen. Die Sonne scheint. Der Schrecken bleibt uns fremd.
Absolut herausragend ist auch das Kontorhausviertel mit seinen Bauten im Klinker-Expressionismus aus dem frühen 20. Jahrhundert. Klinker sind speziell gebrannte Ziegelsteine, deren Anordnung in Bauwerken gleichzeitig als dekoratives Element verwendet wird.
Aber sehenswert ist auch die Speicherstadt. Und die Ballinstadt. Und das Grindelviertel. Und Altona. Und die Nordsee. Und all die hippen Bars. Wir müssen noch einmal hierher. Mindestens.
Kommentare_
Wow. Muss ich mir mal in Ruhe durchlesen, denn es ist viel Text ... Offenbar, weil viel erlebt hier!
Ich selbst wohne in HH seit 1 Jahr und kenne nicht so viele Dinge wie hier beschrieben ist. Wahnsing