Der Schock von 9/11 führte in den vergangenen 13 Jahren zu einem Wiederaufleben des Spionageromans. Reinhard Jud hat zehn neue und ältere Romane genauer durchleuchtet und sich zwischen Agenten und Terroristen umgesehen.
03.12.2014
Die Genre-Neuigkeiten im Telegrammstil: Unter den jungen Autoren haben sich vor allem Olen Steinhauer und Jenny Siler/Alex Carr hervorgetan. Gleichzeitig fanden John le Carré, Robert Littell und Charles McCarry - als Vertreter der älteren Generation - zu ihrer bewährten Klasse zurück.
Mit dem Wechsel vom Kalten Krieg zum "war on terror" kam es zu einer Verschiebung der Schauplätze. Trotzdem sind der Nahe Osten und Nordafrika kein Novum im Genre.
Ein treffendes Bild für das Ende des Kalten Kriegs findet Olen Steinhauer in "Die Kairo-Affäre" ("The Cairo Affair", 2014): Die junge Amerikanerin Sophie Kohl, die mit ihrem Freund Anfang der 90er Jahre auf Osteuropa-Trip unterwegs ist, kauft in Prag eine Leninbüste. Als sie die Karlsbrücke überquert, reißt ihr ein tschechischer Junge die Büste aus der Hand und wirft sie in den Fluß.
Das Ereignis wird für Sophie zur prägenden Erinnerung. Sie heiratet ihren Freund und verbringt mit ihm, der im diplomatischen Dienst tätig ist, lange Zeit in Kairo. Als er nach Budapest versetzt wird und sie ihm abends im Restaurant die Affäre mit einem amerikanischen Regierungsbeamten in Kairo gesteht, erscheint ein Killer am Tisch und erschießt ihren Mann.
Von da an verfolgt der Roman zwei Recherchebewegungen. Sophie reist zurück nach Kairo, um den ehemaligen Geliebten zu treffen; parallel dazu folgt sie ihren Erinnerungen an die Osteuropareise mit ihrem Freund. Damals ging es weiter nach Novi Sad, wo die beiden die Serbin Zora Balasevic und deren Clique kennenlernten und unmittelbar in Kriegshandlungen verstrickt wurden, was das Ende der Unbedarftheit bedeutete.
Zora tauchte später in Kairo wieder auf und überredete Sophie, Informationen aus der amerikanischen Botschaft zu schmuggeln. Es handelte sich um den Plan zum Sturz von Gadaffi, was Sophie damals nicht wußte. Der Plan wurde zwar aufgegeben, doch nachdem involvierte Exil-Libyer verschwinden, macht sich der CIA-Analytiker Gibral Aziz in das bürgerkriegsgeschüttelte Land auf, um Klarheit zu gewinnen. Sein Chauffeur und Leibwächter ist der in Kairo stationierte Contractor John Calhoun. Aziz geht in eine Falle, Calhoun kehrt nach Kairo zurück und kann sich ebenso wenig wie Sophie Kohl einen Reim auf das Geschehene machen.
Dann nimmt Omar Halawi vom ägyptischen Geheimdienst den Erzählfaden auf. Nach dem Sturz Mubaraks findet er zum Glauben zurück, betet regelmäßig und beschließt, der Korruption - verkörpert durch seinen schurkischen Vorgesetzten - Einhalt zu gebieten. Das könnte überzeugen, wäre da nicht das ausgestellte moralische Ungleichgewicht zwischen Halawis frisch gewonnener Tugendhaftigkeit und dem breit geschilderten Lotterleben des Contractors John Calhoun, der sich durch die Bars säuft und mit einer Angestellten der amerikanischen Visabehörde im Bett vergnügt. Dazu kommen die Vergehen einer Sophie Kohl - wobei die wilde und erfüllte Zeit mit Zora in Kairo nur skizzenhaft beschrieben wird, obwohl sie das emotionale Zentrum des Romans ausmachen könnte.
Die Qualität der "Kairo-Affäre" liegt im Blick auf das Milieu von Entwurzelten, den Betrieb in Bars, Clubs, Restaurants und Flughäfen. Seltsam nimmt sich dagegen die Naivität des Autors aus, vor allem, wenn er sich durch den Gebrauch der Reizwörter Wikileaks, Whistleblower und Demokratie bereits eine bessere Welt verspricht.
Die nächsten drei Romane wurden mitten im Kalten Krieg geschrieben; sie fallen in die Zeit der Erneuerung des Genres, auch des Kriminalromans zwischen den späten 60er und frühen 80er Jahren und einer Vermischung mit dem Politthriller, der damals seine Hochblüte erlebte. Eric Amblers Roman "Der Levantiner" ("The Levanter", 1972) zeigt, daß man an diesem Autor nicht vorbeikommt. Hatte er in den 30er Jahren das Genre zwar nicht erfunden, aber mit großem Wissen über die Macht von Wirtschaftskartellen ins Stadium des Realismus überführt, so wandte er sich Mitte der der 50er Jahre der Dritten Welt zu und stieß in Südostasien auf frühen islamischen Fundamentalismus. 1969 brach er in "Das Intercom-Komplott" ("The Intercom Conspiracy") mit der konventionellen Erzählform, indem er den Roman als Sammlung von Briefen, Berichten und transkribiertem Abhörmaterial konzipierte.
In "Der Levantiner" fächert er den Blick auf das Geschehen in drei Perspektiven auf: die Schilderung des Journalisten Lewis Prescott, die ausufernde Rechtfertigung des Hauptverantwortlichen Michael Howell - eines levantinischen Geschäftsmanns mit teils armenischen, teils griechischen und britischen Wurzeln - und die Beschreibung seines krummen Charakters durch dessen Ehefrau Malandra. Michael Howells Unternehmen verliert Pfründe im Syrien der sozialistischen Baath-Partei. Um eingefrorenes Vermögen zu sichern, läßt er sich auf einen Deal mit dem Innenministerium ein. Als er nach einem Auslandsaufenthalt mit seiner Freundin Teresa sein Batteriewerk aufsucht, muß er feststellen, daß eine Zelle palästinensischer Terroristen den Betrieb übernommen hat und Raketen für einen Anschlag auf Tel Aviv vom Meer aus produziert. Der Anführer Salah Ghaled, ein radikaler Abtrünniger der PLO, erpreßt Howell. Dessen Versuche, Gespräche mit dem Mossad aufzunehmen, scheitern - also findet er einen eigenen Weg aus der Misere.
1973 veröffentlichte der ehemalige CIA-Agent Charles McCarry seinen ersten Roman "Das Miernik-Dossier"("The Miernik Dossier"), wie schon bei Ambler als Zusammenstellung von Dokumenten. Es geht um eine Reise im Jahr 1959 von Genf in den Sudan. Initiiert wird sie vom sudanesischen Prinzen Kalash el Khatar, seine Gefährten sind der CIA-Agent Paul Christopher, der britische Agent Nigel Collins und Ilona Bentley, halb Britin, halb Ungarin. Auf sein Drängen schließt sich ihnen der polnische Wissenschaftler Tadeus Miernik an, der Probleme mit der Verlängerung seines Visums hat. Niemand weiß, ob Miernik nicht für den KGB arbeitet; möglicherweise hat er auch Verbindungen zu Aufständischen im Sudan, die mit den Sowjets in Kontakt gestanden sind, mittlerweile aber auf ihre Unabhängigkeit beharren. Der sudanesische Prinz reist im Cadillac, in dem er Waffen schmuggelt. Die Belegschaft eines Tiroler Hotels zeigt sich schockiert von seinem stattlichen Auftreten, das er als Schwarzer an den Tag legt. Als er in Wien auf der Terrasse mit einer weißen Frau tanzt, verfallen die heimischen Gäste in abgründiges Schweigen. Paul Christopher begibt sich auf Mierniks Drängen nach Bratislava und bringt dessen Schwester Zofia über die Grenze. Sie fahren weiter nach Norditalien und über Kairo nach Dar es Salam.
Durch die Anhaltspunkte von trockenen und fragmentarischen Dokumenten, Tagebucheintragungen und abgetippten Abhörbändern stellt sich beim Lesen der Effekt ein, daß die Figuren viel lebendiger und die Abenteuer wie beispielsweise ein nächtlicher Überfall in der Wüste viel farbiger und plastischer erscheinen als anderswo durch die Bemühung um einfühlsame Prosa. Dazu kommt die Atmosphäre der Nachkriegszeit, das greifbare Ressentiment von Österreichern und Deutschen, das grenzenlose Unglück der zentralen Figur Tadeusz Miernik und zuletzt der Akt der Auflehnung in einem ehemaligen Kolonialgebiet, der seinen Ausdruck in blutrünstigen Massakern findet. Monte Hellman wollte den Roman jahrelang unter dem Titel "Secret Warriors" verfilmen, fand aber keine Geldgeber dafür.
Nur eine mäßig interessante Verfilmung mit Klaus Kinski, Diane Keaton und Sami Frey gibt es von John le Carrés "Die Libelle" ("The Little Drummer Girl") aus dem Jahr 1983. Der Autor wechselte damit vom Intrigenspiel im Ost-West-Konflikt zum internationalen Terrorismus. Der Roman beginnt im friedlichen Bad Godesberg bei Bonn. In einer Villa explodiert ein Bombenpaket. Die junge Frau, die das Paket geliefert hat, ist eine von vielen westeuropäischen Sympathisanten und -innen, die sich von palästinensischen Terroristen anwerben ließen. Um an den Anführer Khalil heranzukommen, entführt der israelische Geheimdienst seinen Bruder Salin, nähert sich der engagierten britischen Schauspielerin Charlie bei ihrem Aufenthalt auf Mykonos und bewegt sie dazu, die Rolle der Geliebten Salins zu übernehmen. Dies erfolgt Schritt für Schritt an Schauplätzen in Griechenland, an der Seite des israelischen Agenten Joseph als Platzhalter für Salin, und später, als die Legende die erwarteten Kontaktstellen erreicht hat, alleine in Beirut und Flüchtlingslagern in Libanon.
Le Carré geht in dem Buch zurück bis ans Ende des britischen Mandats in Palästina und zur Gründung des Staats Israel. Er zeigt traditionelle Verbindungen zwischen britischen und israelischen Agenten auf und schildert auf palästinensischer Seite die Zerstörung von Siedlungen als prägenden Einschnitt in den Biographien von Terroristen. Der israelische Geheimdienst ist nicht zimperlich, auch nicht, wenn es um europäische Sympathisanten geht. Charlie wird schon früh eingeschärft, daß sie in gefährlichen Situationen keine Hilfe zu erwarten hat. In den Wendungen der Geschichte - der Eliminierung von Salen, dem Finale bei einem Kongreß im Schwarzwald und der inszenierten Begegnung von Charlie und Khalil - erweist sich Le Carré als brillanter Erzähler und doch auch als Romantiker. Vorbild für Charlie war seine Halbschwester Charlotte, eine Schauspielerin, die sich in den 70er Jahren für die britische Revolutionäre Arbeiterpartei engagierte.
Bereits 1979 hat Charles McCarry in "Die besseren Engel" ("The Better Angels") einen Terrorangriff auf die USA mit gekaperten Passagierflugzeugen beschrieben. 2004 wandte er sich in "The Old Boys" nach 13 Jahren wieder dem Agenten Paul Christopher zu, dessen Saga sich bis dahin auf fünf Romane erstreckte. In "The Old Boys" verschwindet Christopher aus Washington und wird von ehemaligen Gefährten in China, Rußland und Israel gesucht; eine wesentliche Rolle auf der Gegenseite spielt ein islamistischer Kriegstreiber.
Gleichzeitig mit McCarrys "Das Miernik-Dossier" ist 1973 Robert Littells erster Roman "Moskau hin und zurück" ("The Defection of A. J. Lewinter") erschienen. Beide Bücher brachten den amerikanischen Spionageroman auf ein hohes literarisches Niveau. Littell arbeitete schon damals mit Abstraktionen, Spiegelmotiven und Verweisen auf Lewis Carrolls "Alice im Wunderland". Sein Roman "Die kalte Legende" ("Legends", 2005) ist eine Tour de force um den halben Globus, durch verschiedene Zeiten und Identitäten. Eine davon ist Martin Odum, Privatdetektiv in Brooklyn, ehemaliger CIA-Agent; weitere konstruierte Identitäten sind der IRA-Bomber Dante Pippen sowie Lincoln Dittman, Waffenhändler und Experte für den amerikanischen Bürgerkrieg. Martin Odum ahnt, daß er noch über mehr Legenden verfügt. Seine Chefin heißt Crystal Quest, wegen ihrer Ähnlichkeit mit Fred Astaire nennt er sie Fred.
Odum erhält von Stella Kastner, der Tochter eines abgesprungenen KGB-Agenten, den Auftrag, Samuel Ugor Zhilov - den Mann ihrer orthodoxen Schwester in Jerusalem - zu suchen, damit diese eine rechtsgültige Scheidung einreichen kann. Von Jerusalem folgt er Zhilov nach Prag, wo er gefoltert wird, dann nach Litauen, in ein Dorf, in dem Zhilov als Heiliger verehrt wird, und weiter zu einer von biologischen Waffen verseuchten Insel im Aralsee. In Flashbacks erleben wir Dante Pippen in einem Lager der Hisbollah im libanesischen Bekaa und einer Bar in Beirut; Lincoln Dittman im Dreiländereck von Brasilien, Argentinien und Paraguay, als er auf einen Terroristen stößt, der Osama bin Laden sein könnte; eine Episode aus dem amerikanischen Bürgerkrieg bei der Schlacht von Fredericksburg - und eine Begebenheit in den 90er Jahren auf der Straße von Moskau nach St. Petersburg, wobei es beide Male um Verrat und Bestrafung geht.
Martin Odum gelingt es, seine Identitäten zur Deckung zu bringen, und zuletzt deckt er auch noch ein gigantisches Komplott auf, an dem Fred maßgeblich beteiligt ist. Es geht um große Politik, genauso wie in Littells "Die Söhne Abrahams" ("Vicious Circle", 2005), der Geschichte eines Kidnappings im Israel der nahen Zukunft. Die USA wird darin von einer Präsidentin regiert, die auf Unterzeichnung eines Friedensvertrags drängt, bei dem die Grenzen vor dem Sechstagekrieg von 1967 sanktioniert werden sollen. Für den palästinensischen Terroristen Dr. Ismail al-Saath bedeutet der Friede die Anerkennung des Staates Israel. Für den fundamentalistischen Rabbi Isaac Apfuhlbaum, den al-Saath in einem ehemaligen Badehaus im christlichen Viertel von Jerusalem gefangenhält, wäre er das Ende der in seinen Augen legitimen Siedlungspolitik. Beide sind kurzsichtig, beide beharren ganz im Sinne des Bilderverbots auf schriftlich verankerten Dogmen, und beide sind sich über ihre Existenz als Söhne Abrahams - Ismail und Isaak - einig. Parallel zu den langen theologischen Gesprächen laufen die Aktionen des israelischen Geheimdiensts und der palästinensischen Terroristen sowie des palästinensischen Sicherheitsdiensts, der für die Folterungen palästinensischer Aktivisten berüchtigt ist. Den in der englischen Ausgabe titelgebenden Teufelskreis von Terror und Gegenterror beschreibt Littell bereits im ersten Kapitel.
Mit Anfang 20 war Jenny Siler in Europa unterwegs. Sie schlug sich mit diversen Jobs in Frankreich, Schottland, Deutschland, Griechenland, Italien und Spanien durch. Was Sophie Kohl in "Die Kairo-Affäre" schmerzhaft fehlt, nämlich ein Gefühl für das eigene Leben, darüber verfügen Silers Figuren im Übermaß. Die Autorin reiste noch ein paar Jahre ruhelos durch die USA, suchte Florida, Alaska, und Seattle auf und kehrte dann zurück nach Missoula, Montana, einen Ort mit hoher Schriftstellerdichte. Dort ist sie aufgewachsen und dort begann sie auch am Thriller "Schnelle Beute" ("Easy Money") zu schreiben, der 1998 erschien.
Der leider zu früh gestorbene Kriminalschriftsteller James Crumley hat sie bei ihrer Arbeit unterstützt. Silers Werke sind aber keineswegs epigonal, dazu sind ihre Protagonistinnen zu sehr in ihrer Identität erschüttert. Die Analogien liegen im körperlichen Erleben des Geschehens und einer hohen Sensibilität für Orte und Situationen. Bereits in "Schnelle Beute" beschäftigte sich die Autorin mit der Biographie eines CIA-Agenten, dessen Karriere bis in die Zeit des Vietnamkriegs zurückgeht. Nach "Auf dünnem Eis" ("Iced", 2000) und "Shot" (2002) wechselte sie 2004 mit "Ticket nach Tanger" ("Flashback") zum Agententhriller mit internationalen Schauplätzen.
Die Protagonistin von "Ticket nach Tanger" erhielt von Benediktinernonnen den Name Eve. Die Schwestern hatten sie mit einer Kopfschußverletzung und ohne jede Erinnerung im Straßengraben aufgefunden. Eine ärztliche Untersuchung ließ darauf schließen, daß sie eine Geburt hinter sich hatte; ansonsten fand man bei ihr nur noch ein Ticket für eine Fähre von Spanien nach Marokko. Nach einem Jahr im Kloster kommt es zu einem Massaker, das nur Eve überlebt. Sie bricht nach Marokko auf und trifft in Tanger auf Joshi, einen kleinwüchsigen Japaner, und auf einen gewissen Brian Haverman, der behauptet, der Bruder ihres toten Freundes Pat zu sein. Mißtrauisch gegenüber Brian verläßt sie Tanger und fährt nach Marrakesch. Bei einem deutschen Waffenhändler sieht sie dann ein Photo, das ihr vertraut erscheint: eine Frau in Gesellschaft zweier Männer auf einer Terrasse in Vietnam sowie ein heimlich aufgenommenes Videoband von einem Waffentransfer in Pakistan.
Für Eve wird immer mehr zur Gewißheit, daß sie für den Geheimdienst gearbeitet hat. Sie streift durch verwinkelte Gassen und weiß nicht, ob sie beobachtet wird. In amerikanischen Clubs wird sie erkannt und regelrecht hofiert - nur kann sie sich nicht vorstellen, in welcher Rolle. Klarheit findet sie erst, als sie am Ende nach Bratislava reist.
Ihre nächsten beiden Romane schrieb Jenny Siler unter dem Pseudonym Alex Carr. Ihrem Verleger lag nämlich daran, sie nicht mehr eindeutig als Frau zu identifizieren, damit ihre Romane auch für eine männliche Leserschaft - die Hauptklientel für Spionageromane - attraktiv seien. "Portugiesische Eröffnung"("An Accidential American", 2007) handelt von Nicole Blake, laut Paß Amerikanerin. Sechs Jahre hat die Frau wegen Fälschung von Dokumenten in einem Gefängnis in Marseille verbracht, jetzt lebt sie in einem Bauernhof in den französischen Pyrenäen. Der CIA-Agent John Valsamis sucht sie auf und beauftragt sie, ihren marokkanischen Exfreund Rashim Ali in Lissabon zu suchen. Der ist angeblich als Terrorist tätig, was Nicole aber nicht glauben will.
Dem hautnahen Erleben der Protagonistin, vor allem in ihren Erinnerungen an Rashim, der körperlichen Intimität einerseits und andererseits der großen Distanz in Anwesenheit seiner Freunde - vor allem seines Bruders -, die sie als Verachtung empfindet, stehen die Stationen in Beirut während des Bürgerkriegs und beim Anschlag auf die amerikanische Botschaft 1983 gegenüber. Erzählt wird dies aus der Perspektive des Agenten John Valsamis sowie der von Nicole, die als Kind einer Französin im Libanon aufgewachsen ist. Letztlich geht es um eine Fälschung in Zusammenhang mit dem Angriff auf den Irak und nicht um Terrorismus, und für Nicole (wie bereits für Eve) um die eigene Identität.
"Verschärftes Verhör" ("The Prince of Bagram Prison", 2008) beginnt in Madrid. Der CIA-Agent Harry Comfort setzt den 18jährigen Marokkaner Jamal auf Kontakte an, Jamal verschwindet aber. Comfort geht in den Ruhestand, sein Kollege Dick Morrow, mit dem er in Vietnam in Einsatz war, übernimmt den Fall und schickt Katherine Caldwell auf die Suche nach Jamal, weil der eine Verbindung zum Terroristen Bagheri darstellt. Katherine hat ihn bei einem Einsatz in Afghanistan im Gefängnis von Bagram vernommen, bevor er aus unerklärlichen Gründen verschwand. Unerklärlich war damals auch der Tod eines britischen Soldaten, der zudem Katherines Geliebter war.
Katherine vermutet Jamal in Casablanca. Dort ist der Mann in einem Waisenhaus aufgewachsen, in das er nach seiner Geburt in einem Wüstengefängnis überstellt worden war. Seine Mutter war als Gegnerin des Regimes von König Hassan II. interniert. Trotz der vielen Lebenslinien wirkt der Roman an keiner Stelle verwirrend, auch nicht überladen angesichts der Verletzungen der Figuren: dem Drama von Jamals Mutter, Jamals bösen Erinnerungen an eine Existenz als Stricher, Katherines Verlust ihres Bruders in einem der beiden Zwillingstürme beim 9/11-Anschlag und des englischen Geliebten in Bagram. In hartem Kontrast dazu steht das innere Vakuum von Harry Comfort. Aus seinem Ruhestand in Hawaii, der mit Nächten auf der Terrasse in Gesellschaft seiner Freundin allen Vorstellungen von Erfüllung gerecht wird, bricht er zum Haus von Dick Morrow in Virginia auf, um dessen todkranke Frau - mit der er einst ein Verhältnis in Saigon hatte - noch einmal zu sehen. Danach bewegt er sich auf eine Lösung in Casablanca zu.
Jenny Siler hat sich mit ihren drei Agententhrillern in der obersten Liga des Genres verankert. Rezensenten verglichen sie mit Eric Ambler und Graham Greene; tatsächlich hat sie Neues, der Zeit Adäquates geschaffen. 2009 wurde sie vom Kunstdieb Myles J. Connor als Koautorin für seine Biographie "The Art of the Heist" zugezogen. Seither gibt es keine weiteren Romane von ihr, ebensowenig wie aktuelle Infos im Internet.
Zum Abschluß sei noch "Das Jerusalem-Syndrom" ("Damascus Gate") von Robert Stone erwähnt: Stone studierte 1960 mit Ken Kesey und Larry McMurtry an der Stanford University. Von Kesey erschien 1962 "Einer flog über das Kuckucksnest" ("One Flew over the Cuckoo´s Nest"), von McMurtry 1966 "Die letzte Vorstellung" ("The Last Picture Show"); die Verfilmungen dieser beiden Bücher in den 70er Jahren durch Peter Bogdanovich beziehungsweise Milos Forman sind Klassiker des New Hollywood. Robert Stones zweiter Roman "Unter Teufeln" ("Dog Soldiers", 1974) fällt in eine andere Kategorie - es handelt sich um einen durchgeknallten Thriller im Chaos der Vietnam-Ära, vergleichbar mit George V. Higgins´ "Die Freunde von Eddie Coyle" ("The Friends of Eddie Coyle", 1971) und Newton Thornburgs "Geh zur Hölle, Welt" ("Cutter and Bone", 1976), die wie "Unter Teufeln" verfilmt wurden und das Genre des Neo-Noir oder übergeordnet des Paranoia-Films mitdefinierten: Peter Yates adaptierte 1973 den Roman von Higgins, Karel Reisz 1978 mit "Who´ll Stop the Rain" Robert Stones Vorlage, Ivan Passer 1981 mit "Cutter´s Way" die von Newton Thornburg.
Stone versteht sich als Literat und hat - ohne die dubiose Absicht, das Genre salonfähig zu machen - immer wieder Anleihen beim Thriller genommen. Ein zweites Mal passierte das 1981 in "Das Geschrei deiner Feinde" ("A Flag for Sunrise") und dann wieder 1998 in "Das Jerusalem-Syndrom". Der Roman spielt in Israel, die Figuren sind großteils Amerikaner - wie der Journalist Christopher Lucas, Kind eines jüdischen Vaters und einer irischen Mutter. Lucas fühlt sich von der Nachtclubsängerin Sonia Barnes angezogen, einer Sufistin, die sich im Umfeld von Adam De Kuff, einem selbsterklärten Messias, und dessen Gefolgsmann Raziel Melker, einem ehemaligen Junkie, bewegt. Christopher arbeitet an einem Buch über religiös Verwirrte, Leute mit dezidiertem Messiaskomplex, der in Jerusalem häufig unter Ausländern auftritt, wie er vom Psychiater Dr. Oberman erfährt.
Es gibt viele Gründe, wer wen wofür benützt: Christopher kommt in Kontakt mit militanten Palästinensern und deren Sympathisanten, sowie dem polnischen Juden und ehemaligen Kommunisten Jan Zimmer, der möglicherweise in Kontakt mit dem israelischen Geheimdienst steht. Schließlich erfährt er von einem Komplott mit dem Ziel, den Tempelberg in Jerusalem zu sprengen, damit die Verhältnisse endgültig eskalieren. Linda Erickson, die Gattin eines amerikanischen Reverend und Geliebte von Jan Zimmer, ist in die Verschwörung involviert. In ihrer Dummheit verantwortet sie zwei Morde und beinahe auch den Tod von Christopher. Ob Sonia Barnes, der Junkie und der Messias an der Sache beteiligt sind, kann er nur vermuten. Das Ende ist allemal furios - und zeigt, daß Spionageromane auch nach Ende des Kalten Kriegs A. äußerst lesbar und B. alles andere als von gestern sind.
Ethan Hunt, Jason Bourne, Harry Palmer - und über ihnen allen thronend: die britische Doppelnull. Spione im Auftrag diverser Institutionen und Nationen schleichen in unterschiedlichsten Medien seit Jahrzehnten durch die schattigen Gassen der Populärkultur. Martin Compart hat sich an ihre Fersen geheftet und startet im EVOLVER eine Serie über die "Pioniere" des Spionageromans.
Haben Sie Harvey Keitel je als Wiener Inspektor Netusil erlebt, Burt Lancaster und Alain Delon auf ihrer Tour durch die hiesige Kanalisation begleitet oder den etwas anderen Nachtportier kennengelernt? Dann vergessen Sie die Herren Bond oder Hunt und folgen Sie lieber Reinhard Jud auf seinem Streifzug durch die Landeshauptstadt.
Der Schock von 9/11 führte in den vergangenen 13 Jahren zu einem Wiederaufleben des Spionageromans. Reinhard Jud hat zehn neue und ältere Romane genauer durchleuchtet und sich zwischen Agenten und Terroristen umgesehen.
Am 29. Mai ist Karlheinz Böhm mit 86 Jahren verstorben. Für die einen wird er auf ewig "Sissi"-Ehemann Kaiser Franz Joseph bleiben. Wir erinnern uns lieber gemeinsam mit Reinhard Jud an ihn - in Michael Powells genialem Thriller "Peeping Tom".
Seit kurzem liegt der neueste Roman der französischen Krimiautorin auch in deutscher Sprache vor. Reinhard Jud taucht mit Dominique Manotti ins Paris der 80er Jahre ab.
Von 9. Jänner bis 6. Februar dreht sich im Wiener Filmmuseum alles um "Thriller-Politik: Italien, Frankreich und die siebziger Jahre". Schauen Sie sich das an, verehrte Damen und Herren!
Auch 40 Jahre nach "Easy Rider" hat das Biker-Genre nichts von seiner Faszination eingebüßt. Mit "Wild Angels" liegt jetzt erstmals der Begründer der PS-starken Sparte ungekürzt auf DVD vor. Grund genug für Reinhard Jud, sich auf sein Metallroß zu schwingen und den Highway der Filmgeschichte entlangzubrausen.
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